Publikationsserver des Leibniz-Zentrums für
Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Christoph Lorke

Armut

Version: 1, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 02.11.2023
https://docupedia.de/lorke_armut_v1_de_2023

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok-2665

Eine Skulptur mit einem Plakat vor einem Gebäude

Skulptur mit Plakat „Make Poverty History“, Trades Union Congress, 5. Juli 2005, Great Britain. Fotograf: Kaihsu Tai ©, Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0 Deed

Allgemein betrachtet, beschreibt Armut einen Zustand am unteren Ende einer sozialen Hierarchie, der sich mit eingeschränkten Ressourcen sowie verminderten Mobilitäts- und Lebenschancen verbindet. In diesem Beitrag wird zunächst ein Überblick über gebräuchliche definitorische Annäherungen gegeben, ehe die bisherigen Schwerpunkte (zeit-)historischer Beschäftigung nachgezeichnet werden. Hiervon ausgehend, werden Perspektiven und Desiderate der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Armutsforschung erörtert, und zwar unter Berücksichtigung der methodisch-konzeptionellen wie heuristisch-quellenkritischen Herausforderungen und Chancen, die sich mit einer Zeitgeschichte der Armut verbinden.

Was versteht man eigentlich unter Armut? In den Geschichts-, Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften ist der Begriff – wie im Alltagsgebrauch auch – vieldeutig und auf unterschiedliche Weise interpretierbar. Aufgrund dieser Unschärfe ist er, wie sein Antipode Reichtum auch, ein umstrittener und missverständlicher Terminus, der angesichts seiner normativen moralischen wie emotionalen Aufladung und terminologischen Offenheit nicht selten für Irritationen sorgt. Er scheint aufgrund dieser Mehrdeutigkeit ideologisch für sehr unterschiedliche Instrumentalisierungsabsichten anschlussfähig zu sein. Zahlreiche öffentlich geführte politische Diskussionen belegen dies eindrücklich – sowohl in historischen als auch gegenwärtigen Zusammenhängen.

Allgemein betrachtet, beschreibt Armut einen Zustand am unteren Ende einer sozialen Hierarchie, der sich mit eingeschränkten Ressourcen sowie verminderten Mobilitäts- und Lebenschancen verbindet. Wie dies und der Begriff konkret konnotiert werden, hängt vom sozialen, politischen, ökonomischen, religiösen, ideologischen oder kulturellen Standort des jeweiligen Betrachters ab. Genau an dieser Stelle kann eine geschichtswissenschaftliche Annäherung erfolgen, wenn eben jene Standortfaktoren bei der Wahrnehmung, Einordnung und Interpretation der jeweiligen „Armut“ erörtert werden. Ebenso können Historikerinnen und Historiker die jeweilige Identifikation gesellschaftlicher Gruppen, die von sozialem oder materiellem Ausschluss betroffen waren, in einem längeren Verlauf darstellen.

Denn solche Feststellungen von „armen“ Gegebenheiten haben eine lange Geschichte – und neben dieser Komplexität und Mehrdimensionalität des Phänomens wurde von unterschiedlichen Forschenden immer wieder dessen Allgegenwart und Beständigkeit betont: Armut gehöre zur Menschheitsgeschichte dazu, sei gewissermaßen „zeitlos“,[1] ein ständiges Problem gesellschaftlicher Wirklichkeit[2] und dennoch (oder vielleicht genau aus diesem Grund) ein Tabu, „über das viel geredet wird“,[3] während „die“ Armen „in allen Kulturen und Epochen“, so der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Wolfram Fischer bereits vor 40 Jahren, „zugleich die Unbekannten sind“: „Wir wissen wenig über sie und das, was wir zu wissen glauben, ist oft falsch.“[4] Auch wenn sich die Forschung in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat, wird damit eine nach wie vor wichtige Leerstelle benannt.

In diesem Beitrag, der schwerpunktmäßig die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fokussiert und dabei vor allem auf das geteilte und wiedervereinte Deutschland blickt sowie punktuell Vergleiche zu anderen (westlichen) Ländern einbezieht,[5] wird zunächst ein Überblick über gebräuchliche definitorische Annäherungen gegeben, ehe die bisherigen Schwerpunkte (zeit-)historischer Beschäftigung nachgezeichnet werden. Hiervon ausgehend, werden Perspektiven und Desiderate der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Armutsforschung erörtert, und zwar unter Berücksichtigung der methodisch-konzeptionellen wie heuristisch-quellenkritischen Herausforderungen und Chancen, die sich mit einer Zeitgeschichte der Armut verbinden.

 

1. Armut: Definitionen, ihre historischen Bedingtheiten und die Rolle der Armutsforschung

Definitionen und Messverfahren von Armut werden vor allem im internationalen Maßstab etabliert. An der transnationalen Produktion von „Wissen“ über Armut sind federführend Organisationen wie die UN, die ILO, die OECD oder auch die Weltbank beteiligt.[6] Diese Aushandlungen und Verfahren sind auf das Engste mit der Quantifizierung von Wohlstandsindizes verknüpft, die sich vor dem Hintergrund der europäischen Wohlfahrtsstaatsexpansion erklären lässt und auf das enge Verhältnis (supra-)staatlicher Statistik und Wohlstands- bzw. Armutsmessung[7] sowie auf die Rolle Internationaler Organisationen, die Wissenszirkulation über das Soziale sowie die damit verbundene Bedeutung der Aufmerksamkeit sozialer Ungleichheiten in einer zunehmend transnational bzw. global beobachtenden Öffentlichkeit verweist.[8]

In allen, teils sehr unterschiedlichen Armutsdefinitionen und -messungen[9] wird zwischen einer relativen und einer absoluten Armut unterschieden. Dabei wird unter absoluter Armut gemeinhin ein existenzbedrohender Zustand verstanden. Dieser bezeichnet einen signifikanten Mangel an überlebenssichernden Ressourcen wie Nahrungs- und Wasserversorgung, Heizung und Bekleidung. Absolute Armut als unzureichender Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs äußert sich in Unterernährung und Hunger, einer niedrigen Lebenserwartung oder mangelhafter Gesundheitsversorgung. Symbolisch wird diese Form der Armut durch ein täglich zur Verfügung stehendes Einkommen gemessen, das nach aktueller Definition der Weltbank weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag beträgt.[10]

Waren Ausprägungen absoluter Armut, wie beispielsweise Hunger, in hiesigen Breitengraden zumindest noch in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anzutreffen,[11] so sind heutzutage hiervon in erster Linie außereuropäische Regionen betroffen. Gleichwohl ist auch ein solches physisches Existenzminimum kaum endgültig gesellschaftsübergreifend zu beziffern: Individuelle Lebenssituation und konkrete Lebensbedürfnisse, klimatische Bedingungen oder die Beschaffenheit spezifischer familiärer und gesellschaftlicher Gegebenheiten variieren ebenso wie die Frage, welche Güter überhaupt verfügbar und welche Aspekte zu einem minimalen Lebensstandard zu zählen sind.

Bei einem Zustand relativer Armut wird ein bestimmtes soziokulturelles Minimum unterschritten. Dieses Minimum kann als ein äquivalenzgewichtetes Haushaltseinkommen von unter 40 Prozent („starke Armut“), 50 („relativ einkommensarm“) oder 60 Prozent („Armutsrisiko“, „Armutsgefährdung“ oder „schwache Einkommensarmut“) des Medianeinkommens eines Landes definiert werden.[12] Heute gelten innerhalb der Europäischen Union als „armutsgefährdet“ jene Haushalte, die unter der 60-Prozent-Grenze des nationalen Medianeinkommens liegen.[13] Unter den „EU 27“ (ohne Großbritannien) lag dieser Wert im Jahr 2022 bei 16,5 Prozent. Während Bulgarien (22,9 Prozent), Estland (22,8 Prozent), Lettland (22,5 Prozent) und Rumänien (21,2 Prozent) die höchsten, Tschechien (10,2 Prozent), Ungarn und Slowenien (je 12,1 Prozent) die niedrigsten Armutsgefährdungsraten erzielten, betrug dieser Wert in der Bundesrepublik 14,7 Prozent.[14]

Überaus problematisch, weil (sozial-)politisch hochgradig normativ, sind jeweils Festlegung und Bestimmung der Armutsgrenzen – nicht nur, weil diese mit komplexen methodischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Operationalisierbarkeit verbunden und daher als bloße Zahlenangaben nur begrenzt aussagefähig sind. Da die Grenzen genauso gut bei 45, 52 oder 63 Prozent liegen könnten und sie somit definitorisch durchaus beliebig sind, ist dieses Verfahren selbst unter Sozialstaat- und Politik-Experten nicht unumstritten, weil eine geringfügige Veränderung dazu führt, dass sich der Anteil von „Armen“ deutlich verändern kann.[15]

Bei derartigen Setzungen, die immer „rechtfertigungsbedürftige Kompromisse“ sind,[16] sollten ferner immer der interpretative Kontext der Armutsgrenze, ihre gesellschafts-, partei- und wissenschaftspolitischen Dimensionen, ihre politische, ökonomische und soziale Ausformung, die zu einer bestimmten Zeit gegebene Verteilung von Wohlstand und Reichtum sowie ihr konkreter Verwendungszusammenhang, kurz: ihre multiple Relativität mitgedacht werden. Dies gilt beispielsweise auch für die als „klassenlos“ imaginierten Gesellschaften im östlichen Europa vor 1989/91 und für Länder, in denen die Partizipationschancen sowie die Versorgung mit Waren, Gütern, Dienstleistungen und nicht das Einkommen entscheidend waren.[17] „Armut“ bedeutet demnach zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche gesellschaftliche Zusammenhänge etwas ganz anderes – was wiederum die eingangs erwähnte Beliebigkeit bei der begrifflichen Verwendung und entsprechende Aufladungen sowie Irritationen ebenso begründet wie die politischen Ansätze, Armut (nicht) zu bekämpfen.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden von Forscherinnen und Forschern teilweise sehr unterschiedliche Armutskonzeptionen entwickelt, die jeweils andere Gewichtungen und Perspektivierungen haben, zum Teil miteinander konkurrieren oder sich überlappen. Die jeweiligen Definitionen, unterschiedliche Messmethoden, epistemologische Fragen und damit verbundene Probleme sind mit jeweils grundlegenden Entscheidungen und politisch-ideologischen Vorannahmen verbunden, die bei einer Historisierung des Gegenstands zu überprüfen sind. Zugleich spiegeln die unterschiedlichen konzeptionellen Zugriffsweisen ihrerseits die sozial-, politik-, wirtschafts- und auch kulturwissenschaftlichen Entwicklungen innerhalb der Armutsforschung. Dabei sind die jeweiligen politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und sonstigen Kontexte zu beachten, in denen diese Armutsforschung betrieben wird. Ferner sind die jeweiligen national und international agierenden Akteurinnen und Akteure ebenso in die Analyse einzubeziehen wie das Wirken Internationaler Organisationen und die Herausbildung wohlfahrtsstaatlicher Arrangements, die wiederum national wie inter- bzw. supranational zu differenzieren sind.

Bei aller Differenzierung lassen sich jedoch einige zentrale Entwicklungslinien aufzeigen: Aufgrund ihrer leichteren Operationalisierbarkeit erfreu(t)en sich in der internationalen und nationalen, allen voran wirtschafts-, sozial- und politikwissenschaftlichen Armutsforschung[18] beispielsweise zunächst die Ressourcenkonzepte einer gewissen Beliebtheit. Sie greifen jedoch aufgrund ihrer Eindimensionalität – der Faktor Einkommen wird als alleiniger Indikator für die Bestimmung einer Armutslage herangezogen – zu kurz und vermögen die konzeptionellen, definitorischen, empirisch-methodischen, geschweige denn normativen Probleme, die mit dem Armutsbegriff einhergehen, nicht zu lösen.[19] Dessen ungeachtet spielten sie für die Geschichte der Armutsforschung lange Zeit eine wesentliche Rolle, dominierte doch zunächst und bis in die 1980er-Jahre hinein ein eher materiell-monetärer Armutsbegriff in einer allen voran wirtschaftswissenschaftlich orientierten Armutsforschung.[20] Gewissermaßen als Nebeneffekt waren diese Zugriffsweisen mitverantwortlich für einen veritablen „Kampf der Zahlen“ jener Jahre, bei denen es „fast ausschließlich um Definitions- und Quantifizierungsfragen“,[21] weniger jedoch um die Betroffenen selbst ging.

Handelt es sich bei diesem Ansatz um eine Form der ökonomischen Annäherung an das Phänomen Armut, das wenig über die tatsächliche Lebenssituation der Menschen auszusagen vermag, so erweiterten und korrigierten qualitative Zugriffe bestehende Armutsdefinitionen. Ein Beispiel hierfür ist das Ende der 1950er-Jahre begrifflich durch den Soziologen Gerhard Weisser eingeführte Lebenslagenkonzept, das die materielle wie auch die immaterielle Lebenslage gleichermaßen betrachtet und weniger nach verfügbaren Ressourcen fragt, als vielmehr die Teilhabe an zentralen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbereichen einbezieht.[22] Armut wird dabei nicht linear-kausal verstanden. Stattdessen werden verschiedene, sich wechselseitig bedingende Einflussfaktoren betrachtet, die kumulierend eine Armutsexistenz hervorrufen können und in einem bestimmten sozialräumlichen Umfeld zusammentreffen. Dazu zählen etwa Arbeit, Bildung, Wohnen, Heizung, Gesundheit, familiäre Beziehungen und soziale Netzwerke, das Fehlen von Rechten, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine verringerte Lebenserwartung, Einschränkungen der Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten oder der Freizeitgestaltung, Partizipationseinschränkungen und letztlich das Fehlen bzw. die Minderung gesellschaftlicher Wertschätzung.[23]

Hieraus hat sich das Konzept der multiplen bzw. kumulierten Deprivation entwickelt.[24] Darunter wird eine Kumulation materieller, sozialer und psychischer Benachteiligung verstanden, wobei Armut über ökonomische, ökologische, politische, soziale, kulturelle, psychische und physische Aspekte definiert wird und auch subjektive Unzufriedenheit und Sorgen Berücksichtigung finden. So ist in Deutschland die Betrachtung kumulierter Mangellagen auch konzeptioneller Bezugspunkt für die heutigen „Armuts- und Reichtumsberichte“ der Bundesregierung.[25] Mit dieser Herangehensweise wird ein pluraler Ansatz verfolgt, bei dem durch Rückgriff auf unterschiedliche Armutskonzeptionen ein möglichst differenzierter Blickwinkel eingenommen werden kann.

Ein weiterer Ansatz ist die sogenannte dynamische Armutsforschung. Diese konzentriert sich insbesondere auf die „Verzeitlichung“ der Armut und wird verstanden als eine Phase bzw. als Ereignis im individuellen Lebensverlauf, wobei insbesondere die individuelle Handlungsfähigkeit der Betroffenen betrachtet wird. Diese können den Zustand von Armut überwinden und entsprechende Handlungsorientierungen ausbilden. Armut ist aber nicht nur „verzeitlicht“, sondern „biografisiert“ bzw. „individualisiert“ und demnach letztlich „sozial entgrenzt“. Dieser Strang der Armutsforschung trägt dem dynamischen Charakter von Armut Rechnung und erlaubt genauere Aussagen über deren Prozesshaftigkeit und Verlauf, die Dauer des Zustands relativer Armut und die daraus resultierenden Konsequenzen für das individuelle Wohlergehen.[26]

Ein weiterer, in den Sozialwissenschaften häufig verwandter definitorischer Bezugspunkt ist es, Armut als soziales Konstrukt zu begreifen. Armut wird dabei von bestimmten, meist einflussreichen gesellschaftlichen Kommentatorinnen und Kommentatoren wie Wissenschaftlerinnen, Journalisten oder Politikerinnen als ein verhandeltes Phänomen beschrieben. Nach Georg Simmel, Nestor dieses soziologisch-konstruktivistischen Armutsverständnisses, ist Armut kein allgemein gültiger und quantitativ zu fassender Zustand, sondern eine gesellschaftlich ausgehandelte Zuschreibung.[27] Dies kommt dem heute weit verbreiteten Verständnis nahe, wonach Armut kein objektiv zu bestimmendes Faktum, sondern immer auch Ergebnis und Spiegel gesellschaftlich definierter Bestimmungsverfahren und Konstruktionsprozesse ist und mithin stets vorherrschende Werturteile mit einschließt.[28]

Bemerkenswert ist zudem bei Simmel, dass er weniger von einem kompletten Ausschluss aus der Gesellschaft spricht, sondern vielmehr von gradueller Einbeziehung (und Ausgrenzung), folglich von verschiedenen Formen der Nichtteilhabe, von einer Art Gleichzeitigkeit von „drinnen“ und „draußen“, was den Blick für jene Arten sozialer Zwischenräume schärfen kann. Simmels Zugriff, Armut als gesellschaftlich produzierte Beziehung und daher variable Erscheinung zu begreifen, die immer soziokulturelle Ausschlussprozesse spiegelt, fand in den letzten Jahren verstärkt auch in den Geschichts- und Kulturwissenschaften Anwendung. Um jenen methodischen Schwierigkeiten auf heuristisch fruchtbare Weise zu begegnen, wird somit die Dekonstruktion zeitgenössischer Armutsvorstellungen in die Analyse integriert.

In jüngerer Zeit ist in Armutsdiskursen eine verstärkte Nutzung des Begriffs der sozialen Exklusion festzustellen. Dabei geht es bei der Untersuchung von „Exklusion als Provokation der Moderne“[29] weniger um Aspekte der Verteilung, sondern um einen Mangel an gesellschaftlicher Inklusion. Dieser Ansatz trägt aktuellen Prekarisierungstendenzen als Folge von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sowie auf dem Feld sozialer Sicherungssysteme Rechnung, indem er stärker individuelle Reaktions- und Verhaltensweisen (Scham, Rückzug, Fatalismus, Resignation, Entsagung) akzentuiert und diese mit gesellschaftlichen Reaktionsweisen verknüpft.[30] Das Konzept der sozialen Exklusion ist inzwischen als Schlüsselbegriff in der kulturwissenschaftlichen Erforschung von „Armut“ etabliert. Er ist zugleich Ausdruck einer von gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen getragenen Sorge um soziale Erosionserscheinungen und gleichermaßen politisches Schlagwort angesichts des als illegitim wahrgenommenen Ausschlusses größerer Gruppen von gesellschaftlicher Teilhabe, wodurch das Recht auf ein menschenwürdiges Leben infrage gestellt scheint.

 

2. Zeitgeschichte und Armut: Gründe für eine verspätete Hinwendung

Die Erforschung von Armut wurde in der deutschsprachigen wie internationalen Geschichtswissenschaft viele Jahre lang vernachlässigt. Seit den 1980er-Jahren ist allerdings eine Trendwende zu erkennen, zunächst für den Bereich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, dann für die Geschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts.[31] Während das Thema in der klassischen nationalen wie internationalen Sozialgeschichte folglich durchaus angelegt war,[32] spielte es in der deutschsprachigen Zeitgeschichte so gut wie keine Rolle.

Seit einigen Jahren findet das Thema „Armut“ jedoch größere Aufmerksamkeit. Dies ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden gesellschaftlichen Sensibilisierung zu verstehen. Dieser Gegenwartsbezug wiederum hat den Blick der Forschenden in dreifacher Hinsicht nachhaltig geprägt: Erstens ist der explizite Wunsch zu nennen, mithilfe der historischen Armutsforschung einen Beitrag zu leisten, gegenwärtige Armut sensibler und differenzierter wahrzunehmen.[33] Hiervon ausgehend wird der Umgang mit Armut in der Geschichte zweitens als Gradmesser für gegenwärtiges gesellschaftliches und allen voran politisches Engagement und als Spiegel des Selbstverständnisses einer Gesellschaft bei der Auseinandersetzung mit Leitbegriffen wie Solidarität, Gerechtigkeit oder Zugehörigkeit begriffen.[34]

Damit eng verbunden sind drittens jüngere Beobachtungen alarmierender sozialpolitischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, die auf eine „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“ (Robert Castel) in westeuropäischen Ländern hinweisen: gesellschaftliche Auflösungsprozesse nach dem Ende der klassischen Industriemoderne und der fordistischen Normalarbeitsverhältnisse. Aufstieg und Wirtschaftswachstum brachten nicht für alle sozialen Gruppen gleichermaßen Verbesserungen. Vielmehr waren im Rahmen des Strukturwandels verschiedene vulnerable Gruppen besonders mit den Folgen jener umfassenden Veränderungen konfrontiert:[35] ein entfalteter, aber zunehmend bedrängter Sozialstaat, vorherrschende Krisendiskurse, verengte Verteilungsspielräume, zunehmende Verteilungskämpfe und soziale Risiken, Sozialstaatskritik von links wie von neoliberaler Warte.[36]

Dazu gesellten sich in den vergangenen Jahren Debatten um eine vermeintlich bildungsferne und sonstige Vergesellschaftungsdefizite aufweisende „Unterschicht“ mit mutmaßlich eigenen Denk- und Verhaltensweisen. Gerade die dauerhafte soziale Ausgrenzung, etwa von Langzeitarbeitslosen, oder die in den letzten Jahren hierzulande erfolgte Benennung jenes gesellschaftlichen Randes als „Prekariat“, „Überzählige“, „Überflüssige“, „Modernisierungsverlierer“ usw. wirft Fragen über die komplexen Ursachen und zu potenziellen gesellschaftlichen Folgen und sozialpolitischen Herausforderungen auf.

Insbesondere mit Bezug auf das soziale Phänomen der Armut ist die Geschichtswissenschaft in ihrer gesellschaftlichen Orientierungsfunktion um eine historische Einordnung bemüht. Soziale Ungleichheit und Armut sind spätestens mit der Jahrtausendwende wieder zu einem größeren gesellschaftlichen Streitobjekt geworden.[37] Global zu fassende Entwicklungen führten dazu, dass Untersuchungen über die Ausprägungen sozialer Ungleichheit und Verteilungsfragen in nationalem wie internationalem Umfang sowohl in wirtschafts-[38] wie geschichtswissenschaftlichen Kontexten[39] eine unverkennbare Renaissance erfahren haben. Ein wichtiger Indikator für diese Wieder- oder Neuentdeckung des Themas auch für die Neuere, Neueste und Zeitgeschichte war der Dresdner Historikertag 2008 („Ungleichheiten“), der eine merkliche Neuerschließung bzw. explizite Fokussierung des Themenfelds „Armut“ innerhalb der Geschichtswissenschaft spiegelt.[40]

Mindestens drei größere Forschungs- und Publikationsprojekte zeigen, dass das Thema seinerzeit auch implizit einen größeren Stellenwert erhalten hat: Zuerst prominent zu nennen sind die elf Bände der „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland“, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) und vom Bundesarchiv (2001-2008),[41] wobei für den Bereich „Armut“ allen voran die Beiträge zur Sozialhilfe bzw. Sozialfürsorge hervorzuheben sind. Das von einem Autorenkollektiv aus Historikern, Juristen, Soziologen bzw. Sozialrechtswissenschaftlern und anderen vorgelegte Werk versteht die Geschichte der Sozialpolitik als integrierte Gesellschaftsgeschichte, hat einen deutlichen Schwerpunkt auf der gesetzgeberischen Seite und spiegelt nicht zuletzt auch die historische Selbstvergewisserung der dort versammelten Autoren, die in der Regel auch ausgewiesene Experten auf dem Feld der Sozialpolitik waren.

Zweitens sind die Erträge des Trierer Sonderforschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“ (2002-2012) anzuführen.[42] Für den Verbund zentral waren Fragen um Teilhabe und Grenzen von Zugehörigkeit, Zugänge und deren Beschränkungen zu materiellen Ressourcen sowie das Wechselspiel aus Ein- und Ausschluss. Ziel war es u.a., ein übergreifendes Verständnis für soziale und kulturelle Schließungsprozesse sowie für die „Zonen prekärer materieller und sozialer Existenzen am ‚Rand‘ der Gesellschaften“[43] zu entwickeln und über kultur- und mikrogeschichtliche Ansätze auch die Perspektive der Betroffenen mit zu berücksichtigen und das Wechselspiel aus Ein- und Ausschluss in die Analyse einzubeziehen.[44] Diesem Ansatz lag die Annahme zugrunde, dass Gemeinschaften immer durch ein bestimmtes Verhältnis von Inklusion und Exklusion konstruiert sind[45] – ein Begriffspaar, das methodisch prägend für die dortigen Forschungen und weit darüber hinaus war und nach wie vor ist.

Die vierbändige Reihe „Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland“ von Christoph Sachße und Florian Tennstedt ist – drittens – ebenfalls ein Standardwerk zur deutschen Armutsgeschichte. Die Bände zeichnen die wesentlichen Entwicklungslinien der Armenfürsorge nach: vom Spätmittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und bis in die Nachkriegszeit in die Zeit „vor dem Wohlfahrtsstaat“.[46] Im Mittelpunkt steht vor allem der administrativ-organisatorische Rahmen von Fürsorge und Wohlfahrtspflege sowie die Ausrichtung auf den Aspekt der „sozialen Disziplinierung“, wobei gerade die im letzten Band eingenommenen langfristigen Entwicklungen und Kontinuitäten der Wohlfahrtspolitik auch über die politischen Zäsuren 1933 und 1945 hinweg für zeithistorische Perspektiven vielfältige Anknüpfungs- und Vertiefungsmöglichkeiten offerieren. Jüngere Forschungszusammenhänge wie das DFG-geförderte Freiburger Projekt „Armut in Deutschland 1950-1990“[47] sowie das inzwischen bereits in zweiter Runde aufgelegte Graduiertenkolleg der Hans-Böckler-Stiftung „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“[48] griffen und greifen viele der oben genannten Entwicklungen auf und führen sie methodisch weiter aus.

 

3. (Zeit-)Geschichtliche Analysen zu Armut

3.1 Untersuchungen zu verschiedenen sozialen Gruppen

Resümiert man die Befunde dieser und anderer Initiativen, so lassen sich folgende Beobachtungen bündeln: In der Armutsforschung, ob nun genuin zeitgeschichtlich oder nicht, wird in der Regel der Zugriff über eine oder mehrere konkrete soziale Gruppen gewählt, die gemeinhin als „arm“ gelten bzw. zu unterschiedlichen Zeiten gegolten haben. Dabei treten vor allem die folgenden Faktoren als armutsrelevant hervor, die sich intersektional bedingen und verstärken: Art und Dauer der Berufstätigkeit, Arbeitslosigkeit, der Status Alleinerziehender, Migrationshintergrund, geringe schulische bzw. berufliche Qualifikation, Scheidung, geringes Alter und Kinderreichtum (mehr als drei Kinder). Die zunehmende historische Aufmerksamkeit für die nachfolgend exemplarisch angeführten Gruppen korrespondiert wiederum mit aktuellen sozialen Entwicklungen wie einem verstärkten gesellschaftlichen Interesse, das demografische, kulturelle, bildungs-, sozial- oder ordnungspolitische Diskussionen spiegelt.

 

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Eine Gruppe von älteren Leuten sitzt an einem Tisch, an dem Geld ausgezahlt wird.
Rentenauszahlung an die Bewohner eines Altenheimes, 1971/1980, DDR, o.O. Fotograf: Gerhard Weber. Quelle: Deutsche Fotothek / Weber, Gerhard © [01.10.2023]

 

Zu nennen wäre das Thema Altersarmut,[49] um z.B. den gesellschaftlich allgemeinverbindlichen „Gerechtigkeitskulturen“ nachzuspüren und außerdem sowohl die expansiven als auch die restriktiven Phasen sozialstaatlicher Entwicklungen in die Analyse einzubeziehen. Gleiches gilt für die DDR-Geschichte, wo die Alterssicherung dieser Gruppe, propagandistisch-offiziell als „Veteranen der Arbeit“ bezeichnet, als „Achillesferse“ (Gerhard A. Ritter) der DDR-Sozialpolitik gilt.[50] Dass das Thema noch weitaus mehr Potenzial für komparative wie inhaltliche Vertiefungen birgt, zeigen neuere Projekte zu Zusammenhängen zwischen Digitalisierung und Sozialstaat[51] oder zum Komplex Altenhilfe und Pflege.[52]

Auch die historische Erforschung von Kinderarmut hat in den vergangenen Jahren neue Impulse erhalten. Sie wurde zunehmend als Feld gesellschaftspolitischer Interventionen sowie als Ausgangspunkt für Diskussionen um Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit und soziale Durchlässigkeit gesehen.[53] Denn Kinder, insbesondere von Alleinerziehenden, aus kinderreichen Familien oder aus solchen Familien, bei denen der Haushaltsvorstand Sozialleistungen empfing, waren (und sind) mit mannigfachen Benachteiligungen in vielen Bereichen des Lebens (Wohnen, Bildung, Schule) konfrontiert.[54]

Wohnungslose bilden eine dritte Gruppe, die ebenfalls seit geraumer Zeit verstärkt auf die Agenda historischer Analysen gesetzt worden ist. Mediale oder auch gesellschaftliche Diskurse, die kommunale Wohnungspolitik sowie Debatten um Gentrifizierung spiegeln wiederum auch gesellschaftliche Prozesse.[55] Nicht unerwähnt bleiben soll die sich intensivierende Erforschung anderer sozialer Problembereiche, etwa Arbeitslosigkeit[56] oder Heimunterbringung[57] sowie Themen der Disability History.[58]

 

3.2 Arbeiten zu Deutungen und Wahrnehmungen von Armut

Analytisch dominieren Untersuchungen von Wahrnehmungen, Deutungen und Zuschreibungen „des Sozialen“. Zumeist sind diese Arbeiten von medien- und kommunikationswissenschaftlichen Analysen und Befunden inspiriert und streben eine Dekonstruktion zeitgenössischer Verortungsprozesse, zeittypischer Denkhorizonte wie kollektiver Ordnungsmuster und früherer Inszenierungsmodi von „Armen“ bzw. „Armut“ an.[59] Auf diese Weise sollen wiederkehrende Strukturmuster bei Zuschreibungen und Modi der Inklusion und Exklusion nachvollzogen werden.[60] Über Bilder, Images, Semantiken, Wahrnehmungen, Wertideen, normative Ordnungskategorien oder symbolische Repräsentationen werden das Überindividuelle und die Stabilität bei der Weitergabe und Reproduktion solcher Vorstellungen mentalitäts-, kultur- oder auch ideengeschichtlich untersucht.[61] Neben der Beharrungskraft bestimmter Norm- und Moralvorstellungen sowie der Änderungsresistenz gegenüber solchen Bildern ist häufig deren Sichtbarkeit und Sichtbarmachung entscheidend, wobei den Bildern bei der Produktion von Zugehörigkeit eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird.[62] In unterschiedlicher Tiefe wird dabei auch erörtert, wie jene visuellen, semantischen und symbolischen Repräsentationen mit konkreten sozialen Praktiken in Zusammenhang standen (und stehen).[63]

 

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links: Menschen, die in einer Straße für ein Essen anstehen; rechts: Menschen, die auf der Straße an Tischen sitzen und essen
links: Armenküche (vor 1933) in Berlin, Fotograf: unbekannt. Quelle: Deutsche Fotothek © [01.10.2023]; rechts: Benefizveranstaltung von Gastronomen für die „Tafel“ in Baden-Baden,  14. Oktober 2007 (Ausschnitt). Fotograf: Gerd Eichmann, Quelle: Wikimedia Commons [01.10.2023], Lizenz: CC BY-SA 4.0 Deed

 

Jene Bilder und Vorstellungen heben auf diese Weise auf das Verhältnis von Kontinuität und Wandel ab. Solche Armutskonzeptionen gilt es gerade in ihrer historischen Bedingt- und Verfasstheit zu begreifen. Dabei sind längere geistes- und ideengeschichtliche Traditionen und Muster einzubeziehen, wozu vornehmlich die seit dem Spätmittelalter vorgenommene Trennung in „würdige“ und „unwürdige“ Arme gehört. Dazu zählen die Kontinuität und Langlebigkeit von Argumentationsmustern zu Sinn und Zweckmäßigkeit einer wie auch immer gearteten Armenhilfe,[64] die Nachwirkung armenpolizeilicher Traditionen in ihrer Vermischung von Fürsorge und Strafe bzw. Armendisziplinierung und ihre Überformungen durch Bürgertum, Liberalismus oder auch Arbeiterbewegung. Auch Fragen zu Ordnung und Sicherheit, Kriminalisierung und Entkriminalisierung, die Verbindung von Armut und Arbeit,[65] beispielsweise mit Blick auf nationalsozialistische Radikalisierungen, etwa im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ und einer damit beabsichtigten „Reinigung des Volkskörpers“ von „Gemeinschaftsfremden“, sind von Relevanz.[66] Diese hier nur knapp skizzierten Punkte vermögen zu erklären, weshalb Deutungen von Armut häufig als „Strukturen von langer Dauer“[67] gefasst wurden, übrigens nicht allein in geschichts-, sondern – weitaus früher – in sozialwissenschaftlicher Perspektivierung.[68]

Inwiefern diese längeren Linien nicht nur ideen- oder symbolgeschichtliche Entsprechungen hatten, sondern ihre Umsetzung auch in sozial- und fürsorgepolitischen Handlungen fanden, lässt sich beispielsweise beim Sprechen über „Asoziale“ oder auch „Verwahrloste“ zeigen. Damit wird die Rolle von Experten und etablierten Wissensordnungen ebenso berührt wie sozialbiologische und rassistische Konzeptualisierungen, die eben auch in ihrer zäsurübergreifenden Wirkmacht zu interpretieren sind.[69] Jene Rückbezüge und Anknüpfungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit erklären zudem ein „fundamentales Bedürfnis nach Sicherheit und Normalität“,[70] was einen wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung der bundesdeutschen Sozialpolitik hatte und ebenfalls auf die Armutswahrnehmung ausstrahlen sollte. Dies betrifft im Übrigen auch die hochgradig disziplinierende Arbeits- und Zwangserziehung, die auf eine „Orthodoxie der überkommenen sozialmoralischen Werte“[71] sowie auf restaurative Grundzüge etwa innerhalb der Jugendhilfe verweisen.

Diese Herangehensweise, die eher den Blick zurück als nach vorn richtete, bestätigt etwa die Darstellung Michael Heisigs zur Armenpolitik im Nachkriegsdeutschland mit Augenmerk auf personen-, institutionengeschichtliche sowie sozialpolitische Belange.[72] Ergänzt wird dies durch die verstärkte Auseinandersetzung mit der Rolle des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, was lange Zeit im Schatten sozialpolitischer (und folglich auch wissenschaftlicher) Aufmerksamkeit gestanden hatte. Wie Friederike Föcking für das Zusammenwirken aus Ministerialbürokratie und Experten geschildert hat, waren für dessen Entstehung pfadabhängiges Traditionsdenken und eine überaus skeptisch-defensive Haltung gegenüber sozialreformerisch-progressiven Projekten maßgeblich. Diese Ablehnung ist vor dem Hintergrund etwaig drohender Gefahren eines „Versorgungsstaats“ zu verstehen und verweist auf das deutsch-deutsche Kräftefeld.[73]

Diese Verbindung aus Traditionsverhaftung und der Konkurrenzsituation im Lichte des Kalten Kriegs sorgte dann auch in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ und vor dem Hintergrund sozialharmonisierender bzw. konfliktvermeidender gesellschaftlicher Selbstbeschreibungsformeln für ein Weiterbestehen solcher Lesarten, wonach „Armut“ vor allem in ihrer Naturhaftigkeit gesehen und vorherrschend auf den Aspekt der Selbstverschuldung bezogen wurde – inklusiver einer tendenziellen Beibehaltung bewährter dichotomer Trennungen.[74] Zu beachten sind mannigfache Schattierungen und implizite Beibehaltungen, die ihrerseits historisch ebenso kontextualisiert werden müssen wie die Hintergründe der Autorinnen und Autoren jener Arbeiten.[75]

Noch anschaulicher werden solche Traditionen und Entwicklungen dann, wenn Vergleiche gezogen werden. Komparative Studien zu Armut und sozialer Ungleichheit sind bisher in jeweils (west-)deutsch-britischer, -US-amerikanischer und -französischer Perspektive entstanden.[76] Dies überrascht wenig, bietet sich doch die zeitversetzte Entdeckung sozialer „Randgruppen“ in der Bundesrepublik im Vergleich zu den USA und allen voran Großbritannien hierfür besonders an.[77] Dazu kommt die Rezeption angloamerikanischer wie französischer Forschungen und Armutsmodelle, die sich mit Namen wie Charles Booth, Peter Townsend, Kenneth Galbraith, Oscar Lewis, Milton Friedman, Michel Mollat, Pierre Bourdieu oder Serge Paugam verbinden. Künftige Forschungsvorhaben werden gewiss neben lokal- und regionalhistorischen Tiefenbohrungen zu Armutslagen, -verbreitung und -wahrnehmung inter- und transnationalen, europa- und globalhistorischen Dimensionen eine noch größere Beachtung beimessen.[78]

 

3.3 Vergleichsperspektiven: Armut im geteilten und wiedervereinigten Deutschland

Eine besondere Form des Vergleichs verweist auf die Besonderheiten der Armutshistoriografie und Wahrnehmung von „Armen“ in der DDR und Ostdeutschland. An die Stelle der noch vor einigen Jahren konstatierten Defizite[79] bei der Erforschung von Armut in den ehemaligen kommunistischen Ländern sind Studien getreten, die die Ausprägungen sozialer Ungleichheit für verschiedene soziale Gruppen sowie zeitgenössische Vorstellungswelten „des Sozialen“ untersucht haben. Auch in der DDR bestanden – ungeachtet einer weitgehenden Nivellierung der Einkommen und einer im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich geringeren Ausprägung ökonomischer Ungleichheiten[80] – mehr oder weniger stabile Bilder von sozialer Ungleichheit und zu „Armut“, wenngleich jene „impliziten, aber nicht weniger wirksamen offiziellen Armutsbilder […] indirekt“ zu erschließen sind.[81]

Ein Ansatzpunkt ist z.B. die Analyse des propagierten Ideals der „klassenlosen Gesellschaft“ in der DDR unter Einbeziehung zeitgenössischer sozial-, medizin-, rechts- und erziehungswissenschaftlicher Dissertationen unterschiedlicher Provenienz. Diese geben Auskunft über gesellschaftliche Widersprüche und solche Erscheinungen, die nach offiziellem Leitbild dem „real existierenden Sozialismus“ wesensfremd sein sollten: „Asozialität“ bzw. „Dissozialität“, Kriminalität, Prostitution usw.[82] Insbesondere solche Gruppen waren armutsgefährdet, die in der „Arbeitsgesellschaft“ DDR nicht in den Produktionsprozess eingebunden waren, wie (Alters-)Rentnerinnen, oder bei denen kumulativ eine materielle und soziale Benachteiligung vorlag, wie kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Sozialfürsorgeempfänger, Un- oder Angelernte bzw. Teilfacharbeiter und auch migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter.

Die Faktoren weiblich, alleinstehend, älter, dörflich/ländlich lebend und mit niedriger Schulbildung ergaben, zumal in Kombination, eine vergleichsweise höhere Wahrscheinlichkeit, sozial unterprivilegiert – arm – zu sein, was im Vergleich zur Bundesrepublik teils ähnliche spezifische Regeln von sozialem Ein- und Ausschluss nahelegt.[83] Als vergleichsweise wenig erforscht kann hingegen die Rolle kirchlicher Akteure oder gesellschaftlicher Institutionen in der DDR auf dem Feld der Armutsbekämpfung gelten.[84] Gleiches gilt für betriebspolitische Antworten auf die Abfederung sozialer Notlagen.[85] Ein Desiderat der Forschung stellt die Rolle von Pflege- bzw. Alten- oder „Feierabendheimen“ dar.

Wird die „doppelte Nachkriegsgeschichte als vergleichende Problemgeschichte“[86] verstanden und folglich auch der Umgang mit Armut in eine solche Perspektive integriert, bietet sich ein Blick auf fürsorgepolitische Linien besonders an, lassen sich doch hier Prozesse der Abgrenzung und Verflechtung ebenso ablesen wie vielfältige beziehungs- und wirkungsgeschichtliche Verbindungen, Beobachtungen und Abhängigkeiten. Sozialpolitik war beiderseits des „Eisernen Vorhangs“ ein zentraler Legitimationsfaktor politischer Herrschaft. Sie sollte in den politischen Machtbereich des jeweiligen Gegenübers ausstrahlen und auf diese Weise systemische Überlegenheit beweisen.[87]

Zeitgenössische Klassifizierungsmuster („arbeitsscheu“, „Verwahrlosung“, „Asozialität“ usw.) und sozialdisziplinarische Regulierungstechniken deuten nicht nur einige interessante Parallelen zur frühen Bundesrepublik an; sie verweisen ebenso auf Kontinuitätslinien wohlfahrtspflegerischer Leitlinien und Wahrnehmungen,[88] die überaus eng mit der Beziehung zwischen Arbeit und Armut verknüpft sind.[89] In diesem Zusammenhang sind die mentalen, fürsorge- wie ideengeschichtlichen Tradierungen auf dem Feld der „Asozialenpolitik“ mittlerweile gut untersucht, und zwar mit Schwerpunkt auf rechtshistorische, polizei- und sozialgeschichtliche oder sozialpädagogische Aspekte. Erscheinungen sozialer Not und Armut wurden vonseiten der politischen Machthaber, in der Wissenschaft oder im Strafrecht nicht selten mit dem Label „asozial“ versehen, was in Fortführung eingeübter Deutungsweisen zu einer Verdrängung und Verlagerung des Problems auf mutmaßlich individuelle Versäumnisse führte.[90]

Relevant sind darüber hinaus Einstellungen und Haltungen zum System der sozialen Sicherung in der DDR bzw. Ostdeutschland über 1989/90 hinweg. Insbesondere die Untersuchung der subjektiven Seite des Umbruchs und der gefühlten Unsicherheit vermögen ebenso nostalgische Einstellungen zum Vergangenen wie Erwartungen bezüglich des bundesdeutschen Sozialsystems zu erklären, beides Symbole für Inklusions-Versprechen und Gradmesser für Zugehörigkeit und Partizipation.[91] Denn die Übernahme von bundesdeutschen Normen, Akteuren und Institutionen im Zuge der Vereinigung und die Übertragung der Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes auf den Osten Deutschlands waren gewiss für nicht wenige ein schmerzhafter „Preis der Einheit“.[92] Der Zerfall der vormaligen „Arbeitsgesellschaft“ und der Aufbruch in die „entsicherte Gesellschaft“ (Heinrich Best/Everhard Holtmann) beförderten einen sozialen Wandel im „Zeitraffertempo“.[93] In der Folge entstanden zuvor ungeahnte individuelle Risiken (Arbeits- oder gar Wohnungslosigkeit[94]), es entwickelte sich eine umfassende „Umbruchsarmut“,[95] und sogenannte Ausgrenzungsgebiete[96] verfestigten sich vorrangig in landwirtschaftlich geprägten Gegenden.[97]

 

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Ein Mann steht neben einem Wachsoldaten am Brandenburger Tor mit einem Schild, auf dem steht: Hilfe! Ich bin wohnungslos, arbeitslos und habe Hunger
Den letzten Großen Wachaufzug des Wachregiments der
Nationalen Volksarmee vor der Schinkelschen Neuen Wache
Unter den Linden nutzte ein DDR-Bürger, um auf seine soziale
Notlage hinzuweisen: „Hilfe! Ich bin wohnungslos, arbeitslos
und habe Hunger.“ Fotograf: Peer Grimm/ADN, Berlin, 26.
September 1990. Quelle: Bundesarchiv Bild 183-1990-0926-030

 

Freilich sind solche Entwicklungen nicht ausschließlich sozioökonomischen Effekten und Verwerfungen des Transformationsgeschehens an sich geschuldet, sondern immer auch Ergebnis der vor 1989/90 bestehenden Ungleichheitsstrukturen, was sich analytisch kaum in den zeitgenössisch wie retrospektiv häufig allzu idealtypisch-homogenisierenden Begriffen von „Gewinnern“ und „Verlierern“ der Einheit fassen lässt.[98]

 

3.4 Armutsgeschichte als Debattengeschichte

Da die Geschichte des Umgangs mit Armut auch ein Spiegel zunehmender Diskussion darüber ist,[99] vermag wenig zu überraschen, dass viele Autorinnen und Autoren (zeit-)historischer Studien ihr Augenmerk eben auf solche diskursiv besonders dichten Phasen und eine Rekonstruktion unterschiedlicher Armutsdebatten in der Bundesrepublik gelegt haben. Analysen etwa im Zuge der Einführung des „Warenkorbes“ und des Bundessozialhilfegesetzes gehören ebenso dazu wie die Historisierung der „Neuen Sozialen Frage“.[100]

Die endgültige Rückkehr von „Armut“ auf das Tapet der bundesdeutschen Öffentlichkeit in den frühen und mittleren 1980er-Jahren steht in engem Zusammenhang mit Strukturwandel und Beschäftigungsabbau sowie der sozialstaatlichen Diskussion um die zwar wenig präzise, aber durchaus populäre Formel „Neue Armut“. Die sich rasant ausbreitende Arbeitslosigkeit, fortan Hauptursache für Sozialhilfebezug, und die entsprechenden Belastungen für öffentliche Kassen und das Individuum – betroffen waren allen voran (Langzeit-)Arbeitslose, Alleinerziehende, Alte, kinderreiche Familien und zunehmend auch Menschen mit Migrationsgeschichte – führten dazu, dass diese zunehmende soziale auch eine diskursive Polarisierung im politischen Spektrum nach sich zog. Das Schlagwort „Armut“ taugte nunmehr auch für den Wahlkampf.[101]

Insofern haben die damaligen Debatten und auch jene Semantiken der Armuts(de)legitimation in vielerlei Hinsicht Zäsurcharakter in der politischen Kommentierung sowie medialen als auch sozialwissenschaftlichen Berichterstattung in der „alten“ Bundesrepublik. Ähnlich gut lassen sich dank der damit verbundenen dichten Quellenüberlieferung die Diskussionen im Zuge der bereits erwähnten „Umbruchsarmut“ nach 1990 analysieren und in längeren Linien historisieren. Gleiches wird künftig auch für den ersten Reichtums- und Armutsbericht aus dem Jahr 2001 gelten, der schon im Vorfeld für erhebliche politische Aufmerksamkeit sorgte.[102] Streng genommen, erregen die in gewissen Abständen wiederkehrenden Berichte dieser oder anderer Provenienz in verlässlicher Regelmäßigkeit die Öffentlichkeit. Dazu gehör(t)en auch generell Debatten über Wohlstandsindikatoren[103] oder Fragen nach einem gesetzlich garantierten Mindesteinkommen, bedingungslosen Grundeinkommen bzw. unlängst dem „Bürgergeld“.

Diese Diskussionen, die nicht weniger als eine symbolische Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität verhandeln, haben ebenfalls eine längere Vorgeschichte: Zu nennen wären hier etwa die existenzminimale Grundsicherung Weimarer Prägung (Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht 1924) oder das Bundessozialhilfegesetz, mit dem bei Armutslagen erstmalig ein individueller Rechtsanspruch für ein staatlich garantiertes Existenzminimum definiert wurde. Schon damals wurden mit dem Lohnabstandsgebot – dem Verhältnis zwischen den Regelsätzen der Sozialhilfe und den Einkommen der untersten Lohngruppen – und der Subsidiarität, der Eigenverantwortung und Bedarfsgerechtigkeit, zentrale Prinzipien verankert, auf die bis heute rekurriert wird.

Die Bedürftigkeitsprüfung, die in früheren Jahren immer eine sittlich-moralische Beurteilung beinhaltete, sowie die Überprüfung der Arbeitsfähigkeit, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Ausschlusskriterien für den Bezug von Fürsorgeunterstützung waren, sind heute zwar überholt. Dennoch spiegeln diese Überlegungen normative politische Aushandlungen um Fragen von Gerechtigkeit.[104] Dazu gehören auch Diskussionen um die Zukunft des Sozialstaats und nicht zuletzt Debatten über Bezieher staatlicher Leistungen, die sich angeblich in der „sozialen Hängematte“ ausruhen würden. Auch diese Moralisierung sozioökonomischer Phänomene hat eine Geschichte, die wiederum Orientierungswissen für das Verstehen aktueller Debatten liefert.[105]

 

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Aus Papier gebastelte Roboter fordern mit Plakaten ein Grundeinkommen auf einer Straße
Roboterdemonstration für ein bedingungsloses Grundeinkommen, Zürich, 30. April 2016. Fotograf: Flurin Bertschingher, Quelle: Wikimedia Commons [01.10.2023], Lizenz: CC BY 2.0 Deed

 

4. Perspektiven der Forschung und Desiderata

Dieser Parforceritt durch bisherige und gegenwärtige Trends in der (zeit-)historischen Armutsforschung hat gezeigt, dass schon seit längerem nicht nur vertikale Ungleichheiten, sondern zunehmend horizontale Dimensionen (Geschlecht, Alter, Ethnie, Familie, Generation, Religion u.a.m.) des Phänomens analytisch erfasst werden. Solche intersektionalen Formen der Diskriminierung zeigen sich in ähnlicher Form auch bei der Untersuchung des Verhältnisses von Armut und Reichtum; sie erstrecken sich von den Modi der (Un-)Sichtbarmachung über wechselseitige Bezugnahmen bzw. Verhältnisbestimmungen bis hin zu Fragen von Kontinuität und Wandel wie auch hinsichtlich zeitgenössischer Wahrnehmungsdynamiken.[106]

Wurden oben bereits einige Aspekte erwähnt, die aus Sicht des Verfassers eine eingehendere Beschäftigung verdienen, werden im Folgenden zumindest stichpunkthaft bisherige Perspektiven auf vier Feldern gebündelt resümiert und hiervon ausgehend weitere Möglichkeiten aufgeführt, die künftig Blickrichtungen bestimmen könnten, zumindest aber Desiderata andeuten:

1. Wer schreibt welchen Gruppen warum „Armut“ zu, wie wird Armut von wem öffentlich inszeniert, instrumentalisiert, funktionalisiert, bekämpft, bestritten? Die Akteure der Armut sind in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen worden: Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fächer und Hintergründe, die die Verwissenschaftlichung des Themas vorangetrieben haben, Massenmedien, Gewerkschaften, Parteien, Wohlfahrtsverbände, Kirchen oder andere.[107]

Forschungsbedarf besteht weiterhin bei der Einbeziehung der Erfahrungsperspektive, gefasst durch Begriffe wie Resilienz und Vulnerabilität, „agency“ bzw. „Eigen-Sinn“, sowie deren (Selbst-)Sichtbarmachung. Denn das zumeist überaus aufgeladene Sprechen über „Armut“ kann wohl kaum folgenlos für die Selbstwahrnehmung bleiben bzw. geblieben sein, ist doch jener Umgang mit der Erniedrigung ein „gemeinsames Merkmal aller Formen der Armut“.[108] Soziale und symbolische Ächtung und Prozesse gesellschaftlicher Disqualifizierung können, zumal öffentlich dezidiert artikuliert, in ihrer Wirkung kaum unterschätzt werden.[109]

Freilich ist die Quellenproduktion von Betroffenen eingeschränkt, hinterlassen sie doch nur wenige Spuren und sind zumeist nur indirekt über die „Empörung der Sinne“[110] gesellschaftlicher, behördlicher und sonstiger Beobachter zu erschließen. Solche emotionsgeladenen, normativ belasteten und ebenso verzerrten Vermeidungsreaktionen, Vorurteile, Unterstellungen können ohne behutsame quellenkritische Distanzierung schnell eine Marginalisierung, Verfremdung, Distanzierung und Exotisierung nach sich ziehen. In den Quellen blieben „Arme“ meist selbst passiv und unsichtbar, sieht man etwa von Bestrebungen emanzipatorischer Art in Teilen der Sozialwissenschaften ab, die auf Mobilisierung zu politischem Handeln abzielten.[111]

Um ein besseres Gespür für die Folgen materiellen wie immateriellen Mangels, unzureichender Wohnverhältnisse, schlechterer Gesundheit, geringerer Bildungschancen, sozialer Isolation, von Disziplinierungstechniken und einer prekären Rechtsposition sowie der eigenen Vulnerabilität, von Scham, Angst vor bürokratischen Sanktionen oder gesellschaftlicher Stigmatisierung und anderen Aspekten zu erhalten, wird es Aufgabe künftiger Forschungen sein, alltägliche Modi von Subsistenzsicherung, Überlebensstrategien, Widerstandsformen, Handlungsspielräumen und Wahrnehmungsformen, Lebensbedingungen und das Selbstbild der Betroffenen verstärkter als bisher einzubeziehen.

Allerdings sollte dabei nicht der Fehler gemacht werden, die zeitgenössischen, meist an Vereindeutigung interessierten und/oder Sozialvoyeurismus transportierenden Blickweisen auf die Betroffenen zu übernehmen und sie nachträglich wie seinerzeit als homogene Gruppe zu begreifen.[112] Abstufungen und wechselvolle Zuschreibungen eines so komplexen sozialen Phänomens und zugleich die Vielfalt individueller Erfahrungen bleiben so unterkomplex.[113] Wichtige Arbeiten beschäftigen sich etwa mit Nichtarbeit bzw. Nichtstun,[114] der quellenkritischen Dekonstruktion von Medienbeiträgen[115] oder auch mit der Analyse von Armen- bzw. Bittbriefen, die sprachlich-strukturelle Ähnlichkeiten in vergleichender Perspektive aufzudecken vermögen.[116] Auch die verstärkte Einbeziehung literarischer Werke,[117] von Poesie, Interviews oder Reportagen wäre zweifellos reizvoll.

2. Eine Chance wie auch ein methodisches und heuristisches Problem zugleich ist die verstärkte Einbeziehung von Nachbarwissenschaften in die Erforschung von Armut. Für die Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften wie auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft ist das Untersuchungsgebiet inzwischen fest etabliert. Anthropologische, ethnologische, religions- und kunstgeschichtliche, (sozial-)geografische, literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven künftig noch stärker zu berücksichtigen, könnte den analytischen Blickwinkel weiten.

Armut als Metapher zu begreifen und damit die oben verschiedentlich aufgegriffenen Beobachtungen aus dem Quellenstudium in die Analyse einzubeziehen („arm“ verstanden als bildungs-, gefühls-, kontakt-, kulturarm usw.), könnte beispielsweise noch einmal gänzlich neue Formen von Armut jenseits des Materiellen hervortreten lassen. Gleiches gilt für die emotionsgeschichtliche wie (sozial-)psychologische Betrachtung von „Armut“, etwa mit Blick auf die Moralisierung von Gefühlen, Sinnen und ihrer Artikulation.[118] Dies böte unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu materiellen wie auch immateriellen Dimensionen des Phänomens, etwa soziale Isolation oder Diskriminierungserfahrungen.

3. Die Frage, inwiefern die Untersuchung des Geschlechts der Armut, also geschlechtsspezifische Ausprägungen sozialer Not und damit korrespondierende Zuschreibungen relevant sind, wurde oben bereits gestellt. Geschlechts- und familienspezifisch bedingte, bürgerlich-normativ unterlegte moralische Kategorisierungen und Devianzmarkierungen bestimm(t)en die Modi der In- und Exklusion. Sie drück(t)en sich durch Erwartungs- und Anspruchshaltungen an Familien (und nicht zuletzt an Frauen) als Reproduktionsorte moralischer, sittlicher und ethischer Haltungen aus, wodurch wiederum Fragen von Regulierung artikuliert wurden.[119]

Mit einer explizit geschlechtergeschichtlichen Hinwendung zu „Armut“ geht die Analyse der Zusammenhänge von Sorgearbeit, Wohlfahrtsstaatlichkeit und Armut[120] ebenso einher wie die Auseinandersetzung mit Begriffen wie „Feminisierung der Armut“, die Folgen der Dominanz des „male breadwinner“ sowie die Effekte auf Altersarmut, „Hausfrauenehe“ und Kinder als Armutsrisiko.[121] Ikonografisch interessant ist der Gender-Aspekt insofern, als dass weibliche Armut meist verhüllt-unsichtbar daherkommt, während der kauernde, in sich gekehrte, hilflos-passive Bettler in der Regel hegemonial männlich dargestellt wird.[122] Diese kulturellen und sozialsymbolischen Sinngebungen eingehender und systematischer zu historisieren, dürfte ein lohnendes Unterfangen sein.

4. Einen deutlichen Schub hat in den vergangenen Jahren die historische Erforschung von Orten der Armut erhalten, also die Analyse geografischer wie symbolischer Verortungsprozesse.[123] Damit steht dieses Themenfeld in mancher Hinsicht fast mustergültig für jene interdisziplinären Zugriffe, die sich bei der Analyse von Raumpolitiken und Raumlogiken sozialer Exklusion wie Inklusion für die Topografie des Wohnens besonders anbieten. Die Verräumlichung des Sozialen, damit verbundene symbolische Zuschreibungen und die „besondere Trägheit sozialräumlicher Arrangements“[124] unterstreichen die Raumgebundenheit sozialer Distinktionen, wobei Verarmung als sozialräumlicher Prozess keineswegs nur auf einzelne Stadtteile, sondern auch auf größere Einheiten oder ganze Regionen bezogen sein kann.[125] In engem Zusammenhang damit steht die Bedeutung ethnisch-/nationaler Kategorien bei Umfang und Wahrnehmung sozialer Ausgrenzung.

Gegenwärtige gesellschaftspolitische Entwicklungen erübrigen die Relevanzfrage. Zuschreibungs- und Diskriminierungsmuster sind auch bei Fragen um Armut und Gesundheit, Armut und Bildung sowie Armut und Wohnen[126] nachzuvollziehen, die allesamt auf die komplexen Zusammenhänge von Armut und Arbeitslosigkeit, Integration und Diversität sowie Demokratie und Teilhabe referieren.

Dass der Zusammenhang von Armut und Migration in den vergangenen Jahren zunehmend wichtiger geworden ist, deutet auf die erwähnte Akzentverschiebung hin: von der Kategorie Klasse hin zu Ethnie bzw. „race“. Damit werden auch die Überlegungen der bahnbrechenden Studie von Jared Diamond tangiert, wonach weniger konstitutionelle Unterschiede, sondern klimatische und geografische Besonderheiten der verschiedenen Erdteile als Ursache von Armut zentral sind, was den globalen Süden in die Betrachtung integriert.[127]

Diese analytischen Fluchtpunkte verstehen sich als ein Plädoyer für interdisziplinäre, gegenwartsorientierte Zugänge, die den (zeit-)geschichtlichen Blick auf das Phänomen Armut weiten und zu noch mehr Differenzierung, Sensibilisierung und Multiperspektivität beitragen können. Denn gegenwärtige Entwicklungen legen nahe, dass sich Bewertung und Wahrnehmung von Armut weiter wandeln bzw. verändern werden. Armut als sozial konstruierte Kategorie, mit der je nach menschlichen und sozialen Standpunkten sowie historischen Zeitpunkten andere, ja miteinander konfligierende Vorstellungen und Bilder assoziiert werden, ist gegenwärtig ein solch gewichtiger gesellschaftlicher Streitgegenstand wie vielleicht niemals zuvor in der Geschichte. Eine gesellschaftliche Mehrheit scheint verstanden zu haben, dass Armut keineswegs nur ein Problem des globalen Südens oder teilweise der sogenannten Schwellenländer ist. Vielmehr hat Armut eine erhebliche Rückwirkung auf unsere heutige europäische Gesellschaft: durch Prozesse der Globalisierung und von Migrations- und Flüchtlingsbewegungen als Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen oder klimatischen Veränderungen sowie insgesamt durch einen umfassenden sozialen und demografischen Wandel.

Armut ist daher eine nationale, internationale und letztendlich globale Herausforderung für Staaten, Politik und Gesellschaften, vorausschauend, interventiv und präventiv zu agieren, ist es doch grundsätzlicher Anspruch von Gesellschaftspolitik hierzulande und in größeren internationalen Zusammenhängen, Armutslagen zu verhindern oder zumindest möglichst abzumildern. Das zu konstatierende Gemisch an Vorstellungen, Assoziationen und Emotionen zu diesem Thema erhitzt jedoch mit steter Zuverlässigkeit die Gemüter und führt zu teils polemischen Wortbeiträgen, die Diskreditierungen und Forderungen nach sozialen Ausschlüssen einbeziehen. Dass sich diese gesellschaftlichen wie politischen Deutungs- und Handlungsmuster künftig maßgeblich ändern werden, darf bezweifelt werden. Umso wichtiger erscheint historisches Kontextwissen, um ebenso reflektiert wie aufgeklärt jene Positionen einordnen und historisch informiert kritisieren zu können.

 

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Als Eisbären verkleidete Menschen demonstrieren gegen Armut aufgrund des Klimawandels
„Polar Bears Fight Climate Poverty“: Oxfam-Demonstration,
6. Dezember 2007, o.O. Fotograf:in: Ng Swan Ti, Quelle:
Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 2.0 Deed

 

 

[1] Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn, Armut und soziale Ausgrenzung: Ein multidisziplinäres Forschungsfeld, in: dies (Hrsg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2008, S. 13-35, hier S. 13.

[2] Vgl. Franz Rothenbacher, Soziale Ungleichheit im Modernisierungsprozeß des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1989.

[3] Herbert Uerlings, Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, in: ders./Nina Trauth/Lukas Clemens (Hrsg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011, S. 13-22, hier S. 15.

[4] Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982, S. 7.

[5] Dieser geografische Schwerpunkt scheint unter Berücksichtigung der Artikellänge notwendig. Die punktuell erfolgenden internationalen und globalen Einbettungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine globalgeschichtliche Erweiterung der Thematik ein zentrales Desiderat für künftige Forschungsvorhaben darstellt. Vgl. etwa John Iliffe, The African Poor. A History, Cambridge 1987; Eugene Rogan (Hrsg.), Outside In: On the Margins of the Modern Middle East, London 2002; Michael Bonner/Mine Ener/Amy Singer (Hrsg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts, Albany 2003; Jean-Paul Pascual, Pauvreté et richesse dans le monde musulman méditerranéen, Paris 2003. Die Armutsfrage war und ist außerdem unmittelbar mit der Menschenrechtsfrage verknüpft, was wiederum die Entwicklung von Armutsdefinitionen und -konzepten maßgeblich beeinflusst hat. Vgl. exemplarisch: Samuel Moyn, Not Enough. Human Rights in an Unequal World, Cambridge 2019. Und auch die Verbindungen der europäischen und deutschen Gesellschaftsgeschichte zu Entwicklungen außerhalb Europas und damit verbundene Rückkopplungseffekte auf die hiesigen Vorstellungen von „Armut“ liegen auf der Hand. Siehe dazu exemplarisch: Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre, Göttingen 2009; William Easterly, The Tyranny of Experts. Economists, Dictators, and the Forgotten Rights of the Poor, New York 2013; vgl. auch Elina Marmer/Aram Ziai, Rassismus, Armut und „Entwicklung“ in deutschen Schulbüchern, in: Aïcha Diallo/Annika Niemann/Miriam Shabafrouz (Hrsg.), Untie to tie: Koloniale Fragmente im Kontext Schule, Bonn 2021, S. 238-245. Für die DDR siehe Ned Richardson-Little, The Human Rights Dictatorship: Socialism, Global Solidarity and Revolution in East Germany, Cambridge 2020; zu Vorstellungen von Fremdheit und Armut in der DDR-Gesellschaft siehe Christoph Lorke, Die Welt in der DDR: Globalgeschichtliche Zugriffe auf den SED-Staat, ihr Nutzen und ihre Grenzen, in: Historisches Jahrbuch 141 (2021), S. 416-450, online unter https://www.researchgate.net/publication/356790809_Die_Welt_in_der_DDR_Globalgeschichtliche_Zugriffe_auf_den_SED-Staat_ihr_Nutzen_und_ihre_Grenzen [01.10.2023].

[6] Vgl. u.a. Grace Davie, Poverty Knowledge in South Africa. A Social History of Human Science, 1855-2005, New York 2015; Christian Olaf Christiansen/Steven L.B. Jensen (Hrsg.), Histories of Global Inequality. New Perspectives, Cham 2019.

[7] Vgl. beispielsweise für die Historisierung des Bruttosozialproduktes: Daniel Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013. Siehe außerdem Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005; Michael Ward, Quantifying the World. UN Ideas and Statistics, Bloomington 2004.

[8] Vgl. u.a. Amy L.S. Staples, The Birth of Development. How the World Bank, Food and Agriculture Organization, and World Health Organization Changed the World, 1945-1965, Kent 2007; Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley 2002; Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009.

[9] Vgl. u.a. Peter Edward/Andy Sumner, The End of Poverty: Inequality and Growth in Global Perspective, Cham 2019; siehe auch Angus Deaton, The Great Escape: Health, Wealth, and the Origins of Inequality, Princeton 2013.

[10] So der Stand Ende November 2022: World Bank: Measuring Poverty, 30.11.2022, https://www.worldbank.org/en/topic/measuringpoverty [01.10.2023].

[11] Vgl. Rainer Gries, Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991; Alice Weinreb, Modern Hungers. Food and Power in Twentieth-Century Germany, New York 2017; Christina Riese, Hunger, Armut, soziale Frage. Sozialkatholische Ordnungsdiskurse im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, Paderborn 2019; Tatjana Tönsmeyer/Heike Wieters, Welt – Hunger – Hilfe. Zur Zeitgeschichte eines Menschheitsproblems, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 18 (2021), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2021/5947 [01.10.2023], Druckausgabe S. 231-251.

[12] Das „Äquivalenzeinkommen“ (bzw. „bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen“) ergibt sich aus dem Gesamteinkommen eines Haushalts und der Anzahl sowie dem Alter der von diesem Einkommen lebenden Personen. Es soll eine bessere Vergleichbarkeit von Einkommen gewährleisten, da es unterschiedliche Haushaltsgrößen und damit verbundene Bedürfnisstrukturen gewichtet. Das „Medianeinkommen“ – auch mittleres Einkommen genannt – bezeichnet diejenige Einkommenshöhe, von der aus gesehen die Anzahl der Haushalte mit niedrigeren Einkommen ebenso groß ist wie die Anzahl von Haushalten mit höheren Einkommen.

[13] Vgl. Eurostat: Statistics Explained: Glossary: At-risk-of-poverty rate, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Glossary:At-risk-of-poverty_rate [01.10.2023].

[14] Vgl. Statista, Armutsgefährdungsquote nach Sozialleistungen in den Ländern der EU im Jahr 2022, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1171/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-in-europa/ [01.10.2023]. Staatliche Sozialleistungen wie Kinder- oder Wohngeld sind in diesen Einkommen bereits enthalten.

[15] Vgl. Serge Paugam, Die elementaren Formen der Armut, Hamburg 2008, S. 13. Siehe dazu z.B. auch die Ausführungen für China: Hans Kühner, Armut in China. Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 19 (2022), H. 1, online https://zeithistorische-forschungen.de/1-2022/6020 [01.10.2023], Druckausgabe: S. 77-108.

[16] Laszlo A. Vaskovics/Frank Klanberg/Clemens Bauer, Armut, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Bd. 1., 7. Auflage, Freiburg i.B. 1985, Sp. 342-351, hier Sp. 346.

[17] Vgl. dazu das Themenheft der „Zeithistorischen Forschungen“: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus, hg. v. Jens Gieseke/Klaus Gestwa/Jan-Holger Kirsch: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2013 [01.10.2023].

[18] Siehe dazu u.a. den Überblick bei Ernst-Ulrich Huster, Geschichte der Armutsforschung – Ansätze, Ergebnisse, Herausforderungen, in: Kai Marquardsen (Hrsg.), Armutsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2022, S. 29-42, sowie Norman Best/Jürgen Boeckh/Ernst-Ulrich Huster, Armutsforschung: Entwicklungen, Ansätze und Erkenntnisgewinne, in: Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hrsg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden ³2018, S. 27-57.

[19] Siehe u.a. Siegfrid Frech/Olaf Groh-Samberg (Hrsg.), Armut in Wohlstandsgesellschaften, Frankfurt a.M. 2014.

[20] Vgl. Klaus Kortmann, Zur Armutsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland. Kritischer Vergleich vorhandener Studien und eigenen Berechnungen, Frankfurt a.M. 1976; Frank Klanberg, Armut und ökonomische Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1978.

[21] Helga Nowotny, Vom Definieren, vom Lösen und vom Verwalten sozialer Probleme: Der Beitrag der Armutsforschung, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Soziologie und Praxis. Erfahrungen, Konflikte, Perspektiven, Göttingen 1982, S. 115-134, hier S. 125.

[22] Gerhard Weisser, Distribution (II). Politik, in: Erwin von Beckerath u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 1959, S. 635-654.

[23] Vgl. Richard Hauser/Udo Neumann, Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Stephan Leibfried/Wolfgang Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992, S. 237-271, hier S. 243.

[24] Siehe vor allem Peter Townsend, Poverty in the United Kingdom. A Survey of Household Resources and Standards of Living, Harmondsworth 1979.

[25] Die sechs bislang erschienenen Armuts- und Reichtumsberichte finden sich unter: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Armuts- & Reichtumsbericht, https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Startseite/start.html [01.10.2023].

[26] Vgl. Diether Döring/Walter Hanesch/Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt a.M. 1990; Stephan Leibfried/Lutz Leisering u.a. (Hrsg.), Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a.M. 1995. Dieses Herangehen weist eine gewisse Überschneidung mit dem Konzept der Verwirklichungschancen auf, wonach Armut nicht nur vom Einkommens- oder Konsumniveau abhängig ist, sondern als eine Behinderung psychischer, physischer und sozialer Fähigkeiten verstanden wird. Siehe dazu Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford 1981. Siehe zu Sen: Florian Hannig, Die soziale Ungleichheit des Hungerns. Amartya Sens „Poverty and Famines“ (1981), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 18 (2021), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2021/5966 [01.10.2023], Druckausgabe S. 371-377.

[27] Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 371f., online unter https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/54620 [01.10.2023].

[28] Vgl. David Piachaud, Wie misst man Armut, in: Leibfried/Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, S. 63-87, hier S. 84; Thorsten Dörting, Armutsforschung als Intellectual History, in: Christoph Kühberger/Clemens Sedmak (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Wien 2005, S. 201-225, hier S. 202.

[29] Armin Nassehi, Die paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die „Phänomene“, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006, S. 46-69, hier S. 47f. Siehe für weitere Beispiele auch Abschnitt 2 dieses Beitrages.

[30] Vgl. Paugam, Formen.

[31] Vgl. etwa Fischer, Armut; Bronisław Geremek, Geschichte der Armut: Elend und Barmherzigkeit in Europa, München/Zürich 1988; Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider: Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000; Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995; Jürgen Schallmann, Arme und Armut in Göttingen 1860-1914, Göttingen 2014.

[32] Vgl. beispielsweise Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, online unter https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00051629_00001.html [01.10.2023]; Reinhard Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981, online unter https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00051621_00001.html [01.10.2023]; Hartmut Kaelble, Industrialisierung und soziale Ungleichheit: Europa im 19. Jahrhundert; eine Bilanz, Göttingen 1983.

[33] Vgl. Josef Ehmer, Historische Armutsforschung und ihre mögliche Gegenwartsrelevanz, in: Clemens Sedmak/Daiva Döring u.a. (Hrsg.), Armutsforschung in Österreich, Salzburg 2003, S. 59-64, hier S. 61; Christoph Kühberger/Clemens Sedmak, Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Tendenzen, S. 3-11, hier S. 3; Christoph Kühberger, Geschichtswissenschaft als eine „option for the poor“? Zwischen Perspektivwechsel und lösungsorientierter Armutsforschung, in: Clemens Sedmak (Hrsg.), Option für die Armen. Die Entmarginalisierung des Armutsbegriffs in den Wissenschaften, Freiburg u.a. 2005, S. 131-145.

[34] Vgl. Uerlings, Armut, in: ders. (Hrsg.), Armut, S. 13-22, bes. S. 13f.

[35] Vgl. u.a. Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.

[36] Vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3-29, online unter https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd47/04_hockerts.pdf [01.10.2023]; Friedhelm Boll/Anja Kruke (Hrsg.), Der Sozialstaat in der Krise. Deutschland im internationalen Vergleich, Bonn 2008; Winfried Süß, Umbau am „Modell Deutschland“. Sozialer Wandel, ökonomische Krise und wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik in der Bundesrepublik „nach dem Boom“, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 215-240.

[37] Vgl. Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008; Karl August Chassé, Unterschichten in Deutschland: Materialien zu einer kritischen Debatte, Wiesbaden 2010; Claudio Altenhain u.a. (Hrsg.), Von „Neuer Unterschicht“ und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch, Bielefeld 2008, online unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/69971/ssoar-2008-altenhain_et_al-Von_Neuer_Unterschicht_und_Prekariat.pdf [01.10.2023]; vgl. aber auch Robert Castel, Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in: Bude/Willisch, Exklusion, S. 69-86.

[38] Prominent zu nennen ist Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013; vgl. zudem Branko Milanovic, Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization, Cambridge 2016.

[39] Siehe u.a. Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013; Thomas Mergel/Christiane Reinecke (Hrsg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012; Friedrich Lenger/Dietmar Süß, Soziale Ungleichheit in der Geschichte moderner Industriegesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 3-24, online unter https://ams-forschungsnetzwerk.at/downloadpub/2014_AfS-54-2014-01-Lenger-Suess2014.pdf [01.10.2023]; Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut: Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2017; kürzlich Marc Buggeln, Das Versprechen der Gleichheit: Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute, Berlin 2022.

[40] Siehe zuvörderst Winfried Süß, Armut im Wohlfahrtstaat, in: Hans Günter Hockerts/ders. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 19-42; ders., Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961-1989, in: Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 123-139.

[41] Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundeministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv, 11 Bde., Baden-Baden 2001-2008, https://www.mm.wiwi.uni-due.de/fileadmin/fileupload/BWL-MEDMAN/Forschung/publ-ges-sozialpolitik-pdf-5195.pdf [01.10.2023].

[42] Vgl. Sonderforschungsbereich 600/Universität Trier, Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Abschlussbericht dritte Förderperiode (2009-2012), https://fze.uni-trier.de/wp-content/uploads/2017/10/SFB600_Abschlussbericht1.pdf [01.10.2023].

[43] Lutz Raphael, Figurationen von Armut und Fremdheit. Eine Zwischenbilanz interdisziplinärer Forschung, in: ders./Herbert Uerlings (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität: Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike, Frankfurt a.M. 2008, S. 13-36, hier S. 14.

[44] Nur stellvertretend angeführt seien: Katrin Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933, Göttingen 2008; Juliane Tatarinov, Kriminalisierung des ambulanten Gewerbes. Zigeuner- und Wandergewerbepolitik im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. 2015; Beate Althammer, Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933), Essen 2017.

[45] Vgl. zentral: Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion: Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld ²2016, für exkludierende Semantiken sowie Normen und Werte, die solche Prozesse begleiten: Lutz Raphael, Inklusion/Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte, in: Iulia-Karin Patrut/Herbert Uerlings (Hrsg.), Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Weimar/Köln/Wien 2013, S. 235-256, hier S. 242.

[46] Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. 4 Bde, Stuttgart 1980-2012; Bd. 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953, Stuttgart 2012, S. 10.

[47] DFG-Projekt „Armut in Deutschland“, Universität Freiburg, bis 2013, https://www.armutsprojekt.uni-freiburg.de/ [01.10.2023].

[48] Graduiertenkolleg „Wandel der Arbeit“, Institut für soziale Bewegungen, IfZ, ZZF, 2016-2024, https://wandel-der-arbeit.de/ [01.10.2023].

[49] Vgl. u.a. Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen: Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000, S. 316-322; siehe auch Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994; Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980; Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015. Auch in anderen Veröffentlichungen taucht diese – selbstverständlich sehr homogene Gruppe – von Älteren auf, mal mehr, mal weniger explizit mit Bezügen auf Armut. Vgl. Alfred C., Mierzejewski, The Party’s Over: The End of the Welfare State Boom in Western Europe, Lanham 2021; Winfried Schmähl, Alterssicherungspolitik in Deutschland. Vorgeschichte und Entwicklung von 1945 bis 1998, Tübingen 2018; stärker auf die Armut dieser Gruppe konzentriert ist: Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a.M. 2015; sowie ders., An den Rändern der Gesellschaft. Armut und soziale Ausgrenzung im geteilten Deutschland, Berlin 2021. Vgl. zudem das Promotionsprojekt von Benjamin Glöckler (Universität Freiburg), Geteiltes Deutschland, geteilte Altersbilder? Deutungsmuster des Alters in ost- und westdeutschen Zeitschriften im Vergleich (1967-1990).

[50] Siehe etwa Dierk Hoffmann, Am Rande der sozialistischen Arbeitsgesellschaft. Rentner in der DDR 1945-1990, Erfurt 2010.

[51] Vgl. Thomas Kasper, Wie der Sozialstaat digital wurde. Die Computerisierung der Rentenversicherung im geteilten Deutschland, Göttingen 2020.

[52] Siehe zur offenen und stationären Altenpflege: Kristina Matron, Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985, Stuttgart 2017; Kenan H. Irmak, Der Sieche. Alte Menschen und die stationäre Altenhilfe in Deutschland 1924-1961, Essen 2002; Nina Grabe, Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945-1975, Stuttgart 2016. Vgl. außerdem das aktuelle Projekt von Nicole Kramer (Universität Köln): Die Rückkehr der Dienstbot*innen? Die Prekarisierung professioneller Sorgearbeit als gesamtgesellschaftliches Projekt.

[53] Vgl. Till Kössler/Janosch Steuwer, Kindheit und soziale Ungleichheit in den langen 1970er Jahren. Einleitung, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), H. 2, S. 183-199.

[54] Vgl. u.a. Eva Reichwein, Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland: Lebenslagen, gesellschaftliche Wahrnehmung und Sozialpolitik, Wiesbaden 2012, S. 373.

[55] Siehe Britta-Marie Schenk, Unter „Berbern“ und auf dem Sofa. Männlichkeitsrepräsentationen Obdachloser in der Bundesrepublik seit den 1980er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 18 (2021), H. 3, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2021/5986 [01.10.2023], Druckausgabe S. 535-561, sowie das dazugehörige Forschungsprojekt „Ohne Unterkunft? Eine Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert“ (Universität Luzern). Siehe auch das Dissertationsprojekt von Nadine Recktenwald, „Räume der Obdachlosen. Obdachlosigkeit und Stadt, 1924-1974“ (IfZ München); dies., Räume der Obdachlosen. Städtische Asyle im Nationalsozialismus, in: Winfried Süß/Malte Thießen (Hg.), Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen, Göttingen 2017, S. 67-88.

[56] Siehe u.a. Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre, München 2012; ders./Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009; Bénédicte Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt a.M. 2006; Wiebke Wiede, Von Zetteln und Apparaten. Subjektivierung in bundesdeutschen und britischen Arbeitsämtern der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), H. 3, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2016/5398 [01.10.2023], Druckausgabe S. 466-487; vgl. für Frankreich: Hadrien Clouet, Rationner l'emploi. La promotion du temps partiel par les services publics d'emploi allemand et français, Paris 2022.

[57] Siehe u.a. Andreas Henkelmann u.a. (Hrsg.), Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972), Essen 2011, Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung. Der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld 2011; Hans-Walter Schmuhl/Franz-Werner Kersting, Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945-1980): Anstaltsalltag, individuelle Erinnerung, biographische Verarbeitung, Münster 2018.

[58] Siehe u.a. Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009; Theresia Degener/Marc von Miquel (Hrsg.), Aufbrüche und Barrieren. Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er-Jahren, Bielefeld 2019. Siehe außerdem das Themenheft der „Zeithistorischen Forschungen“ 19 (2022), H. 2: Disability History, hg. von Sebastian Barsch u.a., https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022 [01.10.2023].

[59] Vgl. Richard Stang, Armut und Öffentlichkeit, in: Huster/Boeckh/Mogge-Grotjahn, Handbuch Armut, S. 577-588, hier S. 584; Maja Malik, Armut in den Medien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51/52 (2010), S. 40-45, online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32291/armut-in-den-medien/ [01.10.2023]; Gerhard K. Schäfer/Barbara Montag/Joachim Deterding (Hrsg.), „Arme habt ihr immer bei euch“. Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden, Göttingen 2018.

[60] Vgl. Raphael, Inklusion/Exklusion, S. 249; Robert C. Allen, Poverty Lines in History, Theory, and Current International Practice, Oxford 2013, Working Paper, online unter https://ora.ox.ac.uk/objects/uuid:3c9df348-d545-43dc-87f2-ae53c840f1d2 [01.10.2023].

[61] Vgl. Paugam, Formen, S. 86.

[62] Vgl. Lutz Raphael, Armut zwischen Ausschluss und Solidarität. Europäische Traditionen und Tendenzen seit der Spätantike, in: Uerlings, Armut, S. 23-31.

[63] Vgl. Uerlings, Armut, S. 16.

[64] Siehe dazu u.a. auch: Nathan R. Kollar/Muhammad Shafiq (Hrsg.), Poverty and Wealth in Judaism, Christianity, and Islam, New York 2016; Peter Heine, Nicht nur Almosen. Solidarität und Nächstenliebe im Islam, in: Herder-Korrespondenz 60 (2006), H. 6, S. 302-306.

[65] Vgl. Raphael, Figurationen, S. 28; Althammer, Vagabunden, S. 644.

[66] Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1992, S. 265.

[67] Gerhard K. Schäfer, Armut in der Geschichte – Entwicklungen, Formen, Deutungen. Ein Überblick, in: ders./Montag/Deterding, Armut, S. 25-41, hier S. 25.

[68] Vgl. David Matza, Poverty and Disrepute, in: Robert K. Merton (Hrsg.), Contemporary Social Problems, New York ²1966, S. 619-669. Zu den Zusammenhängen von Armut, Kriminalität, Krankheiten, Erziehungsfragen, Familienleben, Entwicklung von Stigmata siehe auch Chaim I. Waxman, The Stigma of Poverty. A Critique of Poverty Theories and Policies, New York 1977.

[69] Vgl. Lutz Raphael, Introduction. Poverty and Welfare in Modern German History – Recent Trends and New Perspectives in Current Research, in: ders. (Hrsg.), Poverty and Welfare in Modern German History, New York 2017, S. 1-21.

[70] Sachße/Tennstedt, Geschichte, Bd. 4, S. 26.

[71] Ebd., S. 136.

[72] Michael Heisig, Armenpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945-1964). Die Entwicklung der Fürsorgeunterstützungssätze im Kontext allgemeiner Sozial- und Fürsorgereform, Bremen 1990.

[73] Friederike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007.

[74] Vgl. Franka Schäfer, Armut im Diskursgewimmel. Eine kritische Analyse des sozialwissenschaftlichen Diskurses, Wiesbaden 2013, S. 212; Dagmar Hilpert, Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1975), Göttingen 2012.

[75] Vgl. nebst vielen weiteren mehr: Herbert E. Colla, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Alfred Bellebaum/Hans Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme. Bd. I: Empirische Befunde, Frankfurt a.M. 1974, S. 19-31; Petra Buhr/Lutz Leisering/Monika Ludwig u.a., Armutspolitik und Sozialhilfe in vier Jahrzehnten, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik: Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 502-546; Lutz Leisering, Armutsbilder im Wandel: Öffentliche Problemwahrnehmung und neuere soziologische Analysen, in: ders. u.a. (Hrsg.), Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993, S. 163-176, online unter https://pub.uni-bielefeld.de/download/1778258/2312424/Leisering_12.pdf [01.10.2023], vgl. auch die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge mit einigen auch historisch rückblickenden Ausführungen: so z.B. Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt a.M. 2009.

[76] Siehe Christiane Reinecke, Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik, Göttingen 2021; Sarah Haßdenteufel, Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990, München 2019. Zwar nicht „Armut“, aber doch Fragen sozialer Ungleichheit hat unlängst Ronny Grundig in den Blick genommen: Vermögen vererben: Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945-1990, Göttingen 2022.

[77] Vgl. Buhr/Leisering/Ludwig, Armutspolitik, S. 529; vgl. auch die Habilitationsschrift von Felix Römer (HU Berlin), Knowledge Regimes of Economic Inequality. A History of Knowledge of Income and Wealth Distribution and Poverty in the United Kingdom since the Post-War Era, Berlin 2020.

[78] Dazu u.a. Wolfgang Voges/Yuri Kazepov (Hrsg.), Armut in Europa, Wiesbaden 1998; Andreas Eckert, Exportschlager Wohlfahrtsstaat? Europäische Sozialstaatlichkeit und Kolonialismus in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 467-488; Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der „sozialen Frage“ bis zur Globalisierung. München 2007; Karim Fertikh/Heike Wieters/Bénédicte Zimmermann (Hrsg.), Ein soziales Europa als Herausforderung: Von der Harmonisierung zur Koordination sozialpolitischer Kategorien, Frankfurt a.M. 2018; Hans Günter Hockerts/Winfried Süß, Markt und Nation. Über zwei Relationen des Sozialstaats und ihren Wandel in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung, in: Christian Marx/Morten Reitmayer (Hrsg.), Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Festschrift für Lutz Raphael zum 65. Geburtstag, Göttingen 2020, S. 318-343.

[79] Vgl. Friedrich Gottas, „Alte“ und „neue“ Armut in Osteuropa, in: Sylvia Hahn/Nadja Maria Lobner/Clemens Sedmak (Hrsg.), Armut in Europa 1500-2000, Innsbruck 2010, S. 200-221, hier S. 219.

[80] Vgl. Gerhard A. Ritter, Thesen zur Sozialpolitik der DDR, in: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR: Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49-1989, München 2005, S. 11-29, hier S. 26. Siehe ebenso die luziden Ausführungen von Jens Gieseke, Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2013/4493 [01.10.2023], Druckausgabe S. 171-198.

[81] Leibfried/Leisering, Zeit der Armut, S. 228.

[82] Vgl. Wilhelm Bleek/Lothar Mertens, DDR-Dissertationen. Promotionspraxis und Geheimhaltung von Doktorarbeiten im SED-Staat, Opladen 1994, Frank Thieme, Die Sozialstruktur der DDR zwischen Wirklichkeit und Ideologie. Eine Analyse geheimgehaltener Dissertationen, Frankfurt a.M. 1996; vgl. zudem Christiane Reinecke, Fragen an die sozialistische Lebensweise: Empirische Sozialforschung und soziales Wissen in der SED-Fürsorgediktatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 311-334, online unter https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-2/Reinecke_2010.pdf [01.10.2023]; Thomas Mergel, Soziale Ungleichheit als Thema der DDR-Soziologie, in: Reinecke/ders. (Hrsg.), Das Soziale ordnen, S. 307-336.

[83] Vgl. Albrecht Kretzschmar, Zur sozialen Lage der DDR-Bevölkerung (Teil I), in: Biss public 5 (1991), S. 38-76, hier S. 51f.

[84] Siehe aber zu einem staatnahen sozialistischen Wohlfahrtsverband: Philipp Springer, „Da konnt’ ich mich dann so’n bißchen entfalten“. Die Volkssolidarität in der SBZ-DDR 1945-1969, Frankfurt a.M. 1999.

[85] Vgl. aber Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1970, Berlin 1995; Jessica Lindner-Elsner, Von Wartburg zu Opel. Arbeit und Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach 1970-1992, Göttingen 2023.

[86] Konrad H. Jarausch, Geschichte der Deutschen „diesseits der Katastrophe“. Anmerkungen zu einem großen Werk, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien 23/24 (2001), S. 16-18, hier S. 18; siehe auch Hans Günter Hockerts, West und Ost – Ein Vergleich der Sozialpolitik der beiden deutschen Staaten, Zeitschrift für Sozialreform 55 (2009), S. 41-56.

[87] Siehe Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945-1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998; Matthias Willing, „Sozialistische Wohlfahrt“. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945-1990), Tübingen 2008; vgl. Beatrix Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002; Alexander Bruce Burdumy, Sozialpolitik und Repression in der DDR. Ost-Berlin 1971-1989, Essen 2013.

[88] Vgl. Marcel Boldorf, Die Sozialstaatlichkeit der DDR in langfristiger historischer Perspektive, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006), H. 4, S. 491-494; vgl. auch Wilfried Rudloff, Die Tradition der deutschen Wohlfahrtspflege und der Weg der DDR, in: Ingolf Hübner/Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.), Diakonie im geteilten Deutschland. Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingungen der DDR und der Teilung Deutschlands, Stuttgart 1999, S. 37-61; ders., Öffentliche Fürsorge, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 191-229; zu den Arbeitshäusern: Marcus Sonntag, Die Arbeitslager in der DDR, Essen 2011.

[89] Für zeitgeschichtliche Überlegungen vgl. Dietmar Süß/Winfried Süß, Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven, in: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), „Nach dem Strukturbruch“ – Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011, S. 345-368.

[90] Vgl. Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR: Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005; Thomas Lindenberger, Das Fremde im Eigenen des Staatssozialismus. Klassendiskurs und Exklusion am Beispiel der Konstruktion des „asozialen Verhaltens“, in: Jan C. Behrends/ders./Patrice G. Poutrus (Hrsg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 179-191, online unter https://www.zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/899/file/lindenberger_fremde_eigenen_staatssozialismus_2003_de.pdf [01.10.2023]. Siehe zudem Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren ... – „Asoziale“ in der DDR, Frankfurt a.M. 2007; Matthias Zeng, „Asoziale“ in der DDR: Transformationen einer moralischen Kategorie, Münster 2000.

[91] Vgl. Simone Kreher/Katharina Matthäus, Armut nach gesetzlicher Lesart – ländliches Prekariat – Unterschicht. Zur Wahrnehmung von Armut zur sozialen Konstruktion der/des Armen in der ostdeutschen Gesellschaft, in: Simone Kreher (Hrsg.), Von der „Leutenot“ und der „Not der Leute“. Armut in Norddeutschland, Wien 2012, S. 185-220.

[92] Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006.

[93] Rainer Geißler, Nachholende Modernisierung mit Widersprüchen. Eine Vereinigungsbilanz aus modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (2000), S. 22-29, online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25413/nachholende-modernisierung-mit-widerspruechen/ [01.10.2023].

[94] Vgl. Ronald Lutz, Obdachlos im Osten. Lagen und Reaktionen, in: Soziale Arbeit 8 (1994), S. 266-276; Werner Hübinger/Udo Neumann, Menschen im Schatten. Lebenslagen in den neuen Bundesländern, Freiburg 1998.

[95] Hanna Haupt, Umbruchsarmut in den neuen Bundesländern?, in: Ronald Lutz/Matthias Zeng (Hrsg.), Armutsforschung und Sozialberichterstattung in den neuen Bundesländern, Opladen 1998, S. 48-69, hier S. 49.

[96] Andreas Willisch, Drogen am Eichberg oder Feuer im Ausländerheim, in: Bude/ders. (Hrsg.), Exklusion, S. 50-63. Siehe auch Berthold Vogel, Ohne Arbeit in den Kapitalismus. Der Verlust der Erwerbsarbeit im Umbruch der ostdeutschen Gesellschaft, Hamburg 1999.

[97] Die weitgehende Nichtbeachtung ländlicher Armut und Fürsorge stellt ohne Zweifel ebenfalls eine Forschungslücke dar. Lebensumstände, Überlebensstrategien wie auch „Eigen-Sinn“, aber auch die Perzeptionsgewohnheiten sind noch nicht umfassend bearbeitet worden. Siehe aber: Inga Brandes/Katrin Marx-Jaskulski, Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850-1930, Frankfurt a.M. 2008.

[98] Vgl. Christoph Lorke, Von alten und neuen Ungleichheiten. „Armut“ in der Vereinigungsgesellschaft, in: Thomas Großbölting/ders. (Hrsg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 271-295; siehe außerdem Clemens Villinger, Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt. Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel von 1989/90, Berlin 2022.

[99] Vgl. Winfried Süß, A „New Social Question“? Politics, Social Sciences and the Rediscovery of Poverty in Post-Boom Western Germany, in: Raphael (Hrsg.), Poverty and Welfare, S. 197-224, hier S. 203-207.

[100] Heiner Geißler, Die neue soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976. Die vom damaligen rheinland-pfälzischen Sozialminister Heiner Geißler (CDU) formulierten Überlegungen erlangten zu einer Zeit, als „Armut“ angesichts ökonomischer Prosperität und sozialstaatlicher Expansion kein allzu bedeutender Aushandlungsgegenstand war, erhebliche Aufmerksamkeit. Inhaltlich-methodisch-definitorische Mängel wurden seinerzeit zwar wahrgenommen, aber die politische Brisanz und Sprengkraft, die sich hinter den politisch-strategisch nicht unklug platzierten Thesen verbarg, in der Bundesrepublik seien sechs Millionen Menschen als arm zu bezeichnen, beförderten letztendlich eine Wiederentdeckung des Themas.

[101] Vgl. Haßdenteufel, Neue Armut; Marie Sophie Graf, Die Inszenierung der „Neuen Armut“ im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983-1987, Frankfurt a.M. 2015; Christoph Lorke, Die Debatte über „Neue Armut“ in der Bundesrepublik. Konstruktion einer Kampagne und Strategien ihrer Zurückweisung (1983-1987), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), H. 6, S. 552-571.

[102] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Der erste Armuts- und Reichtumsbericht (2001), https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Bisherige-Berichte/Der-erste-Bericht/erster-bericht.html [01.10.2023]; „... wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land.“: Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für die Bundesrepublik Deutschland, in: Blätter der Wohlfahrtspflege Bd. 136 (1989), H. 11/12, S. 269-348, online unter https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armutsbericht/doc/1989_Armutsbericht.pdf [01.10.2023].

[103] Vgl. Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts.

[104] Siehe dazu allgemeiner: Habbo Knoch/Benjamin Möckel, Moral History. Überlegungen zu einer Geschichte des Moralischen im „langen“ 20. Jahrhundert, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), H. 1, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2017/5454 [01.10.2023], Druckausgabe S. 93-111.

[105] Vgl. Bernhard Rieger, „Florida-Rolf“ lässt grüßen. Soziale Dämonen, Auslandssozialhilfe und die Debatte um den Wohlfahrtsstaat in der Ära Schröder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022), H. 2, S. 361-389; siehe auch Stephan Leibfried/Lutz Leisering, Mindestsicherung im Sozialstaat: Jenseits der Sozialhilfereform, in: Zeitschrift für Sozialreform 41 (1995), H. 6, S. 325-340. Zur moralischen Ökonomie des Wohlfahrtstaats siehe u.a. Patrick Sachweh, The Moral Economy of Inequality. Popular Views on Income Differentiation, Poverty and Wealth, in: Socio-Economic Review 10 (2012), H. 3, S. 419-445; vgl. auch Steffen Mau/Benjamin Veghte (Hrsg.), Social Justice, Legitimacy and the Welfare State, Aldershot 2007.

[106] Vgl. zuletzt Anne Kurr, Verteilungsfragen: Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960-1990), Frankfurt a.M. 2022; Eva Maria Gajek/dies./Lu Seegers (Hrsg.), Reichtum in Deutschland: Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019.

[107] Vgl. zum letzten Punkt: Meike Haunschild, „Elend im Wunderland“. Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975, Baden-Baden 2018, für die freien Wohlfahrtsverbände siehe u.a. Philipp Kufferath/Jürgen Mittag, Geschichte der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bonn 2019; Peter Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 1945 bis 1961, Weinheim 2005.

[108] Geremek, Armut, S. 11.

[109] Paugam, Formen.

[110] Norbert Preußer, Not macht erfinderisch: Überlebensstrategien der Armenbevölkerung in Deutschland seit 1807, München 1989, S. 24, sowie für das Weitere S. 28-68.

[111] Vgl. Nowotny, Armutsforschung, S. 130.

[112] Vgl. Christoph Kühberger, Historische Armutsforschung. Eine Perspektive der Neuen Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung Salzburger Quellen des 20. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 87.

[113] Vgl. Christoph Kühberger, „Voices of the poor“ hören. Ein möglicher geschichtswissenschaftlicher Beitrag zur lösungsorientierten Armutsforschung, in: Michael C. Bauer/Alexander Endreß (Hrsg.), Armut. Aspekte sozialer und ökonomischer Unterprivilegierung, Aschaffenburg 2009, S. 126-144.

[114] Siehe etwa Yvonne Robel, Von passiven Gammlern zu professionellen Müßiggängern? Mediale Bilder des Nichtstuns seit den 1960er Jahren, in: Petra Terhoeven/Tobias Weidner (Hrsg.), Exit. Ausstieg und Verweigerung in „offenen“ Gesellschaften nach 1945, Göttingen 2020, S. 290-312.

[115] Siehe Meike Haunschild, Fernsehbeiträge als historische Quellen – Vorschläge zur Vorgehensweise am Beispiel von Obdachlosenreportagen, in: dies./Julia Lorenzen/Lisa Spanka (Hrsg.), Zugänge zur Zeitgeschichte: Bild – Raum – Text, Marburg 2016, S. 49-75; siehe auch die entsprechenden Überlegungen bei Lorke, Armut; ders., Depictions of Social Dissent in East German Television Detective Series, 1970-1989, in: Journal of Cold War Studies 19 (2017), H. 4, S. 168-191, sowie viele der Beiträge in Eva Maria Gajek/ders. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a.M. 2016.

[116] Siehe Dorothee Lürbke, Seen with their Own Eyes. Self-Presentations of the Poor in Freiburg and Schwerin, 1950-1975, in: Beate Althammer/Lutz Raphael/Tamara Stazic-Wendt (Hrsg.), Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe, New York 2016, S. 382-403; dies., Armut und Armutspolitik in der Stadt: Castrop-Rauxel, Freiburg und Schwerin im innerdeutschen Vergleich, 1955 bis 1975, Reutlingen 2015, online unter https://freidok.uni-freiburg.de/dnb/download/9872 [01.10.2023]; vgl. insgesamt und unter Einbeziehung auch internationaler Perspektiven Andreas Gestrich/Steven King/Lutz Raphael (Hrsg.), Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800-1940, Bern 2006. Siehe außerdem Hubertus Jahn, Voices from the Lower Depths: Russian Poor in their Own Words, in: Beate Althammer/Lutz Raphael/Tamara Stazic-Wendt (Hrsg.), Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe, New York/Oxford 2016, S. 335-355; Andreas Gestrich/Elizabeth Hurren/Steven King, Poverty and Sickness in Modern Europe: Narratives of the Sick Poor, 1780-1938, London/New York 2012; Alysa Levene (Hrsg.), Narratives of the Poor in Eighteenth-Century Britain, 5 Bde., London 2006; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: Jasmin Humburg, Television and Precarity. Naturalist Narratives of Poor America, Berlin 2020.

[117] Vgl. u.a. Georg Büchner („Woyzeck“), Fjodor Michailowitsch Dostojewski („Arme Leute“), Charles Dickens („Hard Times“), Heinrich Mann („Die Armen“), Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“), Berthold Brecht („Dreigroschenoper“) wie auch jüngere Beispiele, etwa Inci Y., Erzähl mir nix von Unterschicht. Die Geschichte einer Türkin von Deutschland, München 2007. Vgl. http://www.albanknecht.de/materialien/Armutsliteratur.pdf [01.10.2023].

[118] Vgl. Ute Frevert u.a. (Hrsg.), Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011.

[119] Vgl. Arbeitskreis „Repräsentationen“ (Hrsg.), Die „andere“ Familie. Repräsentationskritische Analysen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2013.

[120] Vgl. Christiane Kuller, Who Cares? Gender, Poverty and Welfare in West Germany, in: Raphael (Hrsg.), Poverty and Welfare, S. 172-196; sowie insgesamt dies., Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975, München 2004; vgl. ferner Anna Schnädelbach, Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt a.M./New York 2009; Christiane Eifert, Frauenpolitik und Wohlfahrtspflege. Zur Geschichte der sozialdemokratischen „Arbeiterwohlfahrt“, Frankfurt a.M./New York 1993.

[121] Vgl. Ilona Ostner, Armutsbegriffe im Wandel, in: Sedmak, Option für die Armen, S. 31-45; Dorothea Noll, „… ohne Hoffnung, im Alter jemals auch nur einen Pfennig Rente zu erhalten“. Die Geschichte der weiblichen Erwerbsbiographie in der gesetzlichen Rentenversicherung, Frankfurt a.M. 2010.

[122] Vgl. Gottfried Korff, Bilder der Armut, Bilder zur Armut, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte. Ein Bild-Lesebuch, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 14-30.

[123] Wohnen war selbstverständlich bereits zuvor schon Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Analysen, hat aber nun einen Schub erfahren. Vgl. etwa Günther Schulz, Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik 1945 bis 1957, Düsseldorf 1994; Georg Wagner, Sozialstaat gegen Wohnungsnot. Wohnraumbewirtschaftung und Sozialer Wohnungsbau im Bund und in Nordrhein-Westfalen 1950-1970, Paderborn 1995; Adelheid von Saldern, Stadtrandwohnen. Soziale Ungleichheiten in historischer Perspektive, in: Annette Harth/Gitta Scheller/Wulf Tessin (Hrsg.), Stadt und soziale Ungleichheit, Opladen 2000, S. 79-101.

[124] Lutz Raphael, Grenzen von Inklusion und Exklusion. Sozialräumliche Regulierung von Armut und Fremdheit im Europa der Neuzeit, in: Journal of Modern European History 11 (2013), H. 2, S. 147-167, hier S. 166.

[125] Vgl. Stephan Beetz, Was passiert, wenn Regionen „verarmen“? Überlegungen zur Verknüpfung von Armuts- und Regionalforschung, in: Kreher, Von der „Leutenot“, S. 37-55.

[126] Zur Ethnisierung städtischer Problemlagen siehe Reinecke, Ungleichheit, S. 101, 104f.; Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Ditzingen 2020, S. 136-152.

[127] Jared Diamond, Guns, Germs, and Steel. The Fates of Human Societies, New York 1997.

 

 

Empfohlene Literatur zum Thema

Jens Gieseke, Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2013/4493 [01.10.2023], Druckausgabe S. 171-198

Sarah Haßdenteufel, Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990, München 2019

Meike Haunschild, „Elend im Wunderland“. Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955-1975, Baden-Baden 2018

Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut: Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2017

Christoph Lorke, An den Rändern der Gesellschaft. Armut und soziale Ausgrenzung im geteilten Deutschland, Berlin 2021

Dorothee Lürbke, Armut und Armutspolitik in der Stadt: Castrop-Rauxel, Freiburg und Schwerin im innerdeutschen Vergleich, 1955 bis 1975, Reutlingen 2015, https://freidok.uni-freiburg.de/data/9872 [01.10.2023]

Serge Paugam, Die elementaren Formen der Armut, Hamburg 2008

Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013

Winfried Süß, Armut im Wohlfahrtstaat, in: Hans Günter Hockerts/ders. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 19-42

Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hrsg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011

 

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